London. Es wird immer deutlicher, wie stark die britische Wirtschaft unter dem Brexit leidet. Plant London eine Wiederannäherung an die EU?

Am Ende blieb Simon Spurrell nichts anderes übrig, als seine Firma zu verkaufen. Der Grund: Brexit. Seit Anfang 2021 muss der britische Käsehersteller beim Export in die Europäische Union Zertifikate ausfüllen, die ihn jedes Mal 180 Pfund kosten. Über Nacht büßte er 20 Prozent seines Geschäfts ein.

Immer wieder hat Spurrell in den vergangenen zwei Jahren die britische Regierung gedrängt, die bürokratischen Hürden abzubauen. So hartnäckig war er, dass ihn der ehemalige Premierminister Boris Johnson angeblich „diesen verdammten Käse-Mann“ nannte. Aber er hatte keinen Erfolg. So hat Spurrell seine Cheshire Cheese Company im November an einen Konkurrenten verkauft. Dieser hat eine Niederlassung in den Niederlanden und kann so ohne viel Bürokratie in die EU exportieren.

Beispiele wie dieses gibt mittlerweile zuhauf. In den britischen Zeitungen liest man von unzähligen Sektoren, die mit Brexit-Problemen kämpfen – von der Gastronomie bis zur Landwirtschaft. Mit jedem Monat wird offensichtlicher, wie groß der Schaden ist, den der Brexit in der britischen Wirtschaft angerichtet hat. Während der Pandemie war es teilweise knifflig, die Konsequenzen von Corona und die des Brexits auseinanderzuhalten – aber mittlerweile ist das Bild sehr deutlich.

Brexit: Britische Wirtschaft könnte deutlich schrumpfen

Zwei Jahre nach dem EU-Austritt hat sich bei den Ökonomen ein klarer Konsens eingestellt, schrieb die Financial Times Ende November: „Der Brexit hat die Wirtschaftsleistung des Landes signifikant verschlechtert.“ Haushalte sind ärmer geworden, Investitionen stagnieren und die Handelsbarrieren zum größten Absatzmarkt, der EU, haben den Warenverkehr um geschätzte 10 bis 15 Prozent einbrechen lassen. Der Rechnungshof OBR schätzt, dass die britische Wirtschaft wegen des Brexits insgesamt um vier Prozent schrumpfen wird.

Lesen Sie auch: Unabhängigkeit – Schottland darf kein Referendum ohne London beschließen

Dazu trägt unter anderem der Währungsverfall bei. Der Wert des Pfunds ist seit dem EU-Referendum im Juni 2016 um etwa 10 Prozent gefallen. Das hat Importe teurer gemacht und die Inflation befeuert – aber die Löhne haben sich dadurch nicht erhöht. Der Thinktank Resolution Foundation schätzt, dass der Brexit die Löhne inflationsbereinigt um fast 2 Prozent nach unten gedrückt hat. Mit anderen Worten: Der Brexit trägt einen Teil zur tiefen Krise der Lebenshaltungskosten bei, mit der die Briten derzeit kämpfen.

Großbritannien: Die Landwirtschaft ächzt unter den Brexit-Folgen

Auch der Handel zwischen Großbritannien und der EU ist stark eingebrochen. Exportfirmen, wie jene von Käsehersteller Simon Spurrell, müssen jetzt zusätzliche Kosten und endlosen Papierkram bewältigen. Das hat viele dazu verleitet, überhaupt nicht mehr mit EU-Länder zu handeln. Im Sommer publizierte der Thinktank Centre for European Reform eine Studie, die errechnete, dass das britische Handelsvolumen um fast 14 Prozent größer sein könnte, wenn das Land noch Teil der EU wäre.

Landwirte zählen ebenfalls zu den Brexit-Geschädigten. Sie klagen seit langer Zeit, dass ihnen aufgrund der verschärften Einwanderungsregeln Arbeitskräfte aus Süd- und Osteuropa fehlen. Im Spätsommer meldete der Bauernverband NFU, dass Früchte und Gemüse im Wert von 60 Millionen Pfund entsorgt werden mussten, weil zu wenig Arbeiter da waren, um die Ernte zu pflücken.

Gastronomie in Großbritannien: Etliche Stellen wegen Brexit unbesetzt

In einer ähnlichen Bredouille sind Restaurants und Pubs: Während der Pandemie sind tausende Köche, Kellner und Baristas aus EU-Ländern zurück nach Hause gegangen – und aufgrund der verschärften Grenzbürokratie dort geblieben. Das ist ein wichtiger Grund, weshalb in der Gastronomie 11 Prozent der Stellen unbesetzt sind.

Auch interessant: Laborfehler in Großbritannien führt zu 23 Covid-Todesfällen

Vielen Betrieben verdirbt dies das Weihnachtsgeschäft: Das vornehme Restaurant "The Rattle Owl" in der nordenglischen Stadt York beispielsweise kann am Weihnachtstag weniger als die Hälfte der Gäste bedienen als in früheren Jahren – mehr ist aufgrund des Personalmangels schlichtweg nicht drin. Der Starkoch Jason Atherton sagte kürzlich, er müsse im nächsten Jahr einige seiner Londoner Restaurants ganz schließen, weil ein Drittel der Mitarbeiter fehle.

Heizen oder Essen? Britische Tafeln erleben Ansturm

weitere Videos

    Trotz wirtschaftlicher Probleme: Regierung hält an Brexit-Kurs fest

    Dass der Brexit nicht ganz nach Plan läuft, das hat die Öffentlichkeit durchaus mitbekommen. So zeigte eine Umfrage im November, dass 56 Prozent der Briten ihn mittlerweile für einen Fehler halten. Das ist mehr als je zuvor – im Land geht der kollektive Brexit-Kater um. Selbst unter jenen, die 2016 für den Austritt stimmten, sind ein Fünftel mittlerweile zu Brexit-Gegnern geworden.

    Nichtsdestotrotz gibt es keinerlei Anzeichen, dass die Regierung unter Rishi Sunak eine Annäherung an die EU plant, um den Brexit-Schaden zu begrenzen. Stattdessen hält die Regierung hartnäckig an der Überzeugung fest, dass der Brexit doch noch irgendwie ganz toll werden könne. Als vor zwei Wochen Gerüchte kursierten, dass die Regierung ein Neustart in den Beziehungen zur EU nach Schweizer Modell anstrebe, kam umgehend das Dementi aus der Downing Street: Auf keinen Fall werde man das tun.

    Rishi Sunak hält am Brexit-Kurs seiner Vorgänger fest.
    Rishi Sunak hält am Brexit-Kurs seiner Vorgänger fest. © dpa | Jonathan Brady

    Sunak: „Brexit kann dem Land einen enormen Nutzen bringen“

    Eine Annäherung, bei der Großbritannien Regulierungen und Standards von der EU übernehmen müsste, komme nicht in Frage. „Ich weiß, dass der Brexit dem Land einen enormen Nutzen bringen kann“, sagte Sunak – ohne darauf einzugehen, was dieser Nutzen genau sei.

    Lesen Sie auch: Premier Rishi Sunak: So wurde seine Ehefrau zur Millionärin

    Diese Sturheit ist auch der Tatsache geschuldet, dass es beim harten Kern der Tories sowie bei der rechtskonservativen Presse zum guten Ton gehört, den Brexit zu feiern. Beide Gruppen sind überaus einflussreich. Und so ist es kaum zu erwarten, dass unter Rishi Sunak eine Brexit-Kehrtwende kommt – egal wie groß der Schaden noch wird.