Berlin. Im Bundesarchiv setzen Mitarbeiter per Hand zerrissene Stasi-Akten zusammen. 600 Säcke sind geschafft. Tausende weitere warten noch.

Wenn Andreas Loder einen von 16.000 großen braunen Säcke öffnet, erinnert das an eine archäologische Grabung. Vorsichtig, Schicht um Schicht, sichtet der Diplom-Archivar des Bundesarchivs den Inhalt. Bloß nicht auskippen, keinesfalls wühlen, heißt die Devise. Nichts soll hier durcheinander geraten, kein Schnipsel aus dem Zusammenhang gerissen werden. Loder leitet die Abteilung Manuelle Rekonstruktion im Stasi-Unterlagen-Archiv, das seit 2021 zum Bundesarchiv gehört.

Stasi-Akten im Bundesarchiv: Aktenpuzzler machten schon aufsehenerregende Funde

Per Hand puzzeln der 43-Jährige und zehn Kolleginnen und Kollegen zerrissene Akten der DDR-Staatssicherheit zusammen. Stück für Stück. Seit 30 Jahren gibt es das Projekt. 600 Säcke voller Papier, manche fast 30 Kilo schwer, wurden wieder in lesbare Dokumente verwandelt. 1,7 Millionen Blätter. „Die Masse erschlägt einen manchmal“, sagt Loder. Zumal noch weitere 15.400 Säcke warten.

„Man weiß, dass man etwas sehr Relevantes macht“, sagt Projektleiter Andreas Loder. Entspreche gehe ihm und seinen Mitarbeitern in der Manuellen Rekonstruktion des Stasi-Unterlagen-Archivs die Motivation nicht verloren.
„Man weiß, dass man etwas sehr Relevantes macht“, sagt Projektleiter Andreas Loder. Entspreche gehe ihm und seinen Mitarbeitern in der Manuellen Rekonstruktion des Stasi-Unterlagen-Archivs die Motivation nicht verloren. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die kargen Büroräume in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Lichtenberg – Gebäude 7 – zweiter Stock, lassen nicht erahnen, welch bedeutsame historische Arbeit hier gemacht wird. Wobei, sagt Loder zur Begrüßung, das mit der Bedeutung sei ja ohnehin so eine Sache. „Was dem einen unwichtig erscheint, ist für den anderen vielleicht extrem wichtig.“ So sorgten die Aktenpuzzler in der Vergangenheit immer wieder mal für Aufsehen – etwa als sie Quellen entdeckten, die Aufschluss über die Verfolgung prominenter DDR-Oppositioneller wie die Schriftsteller Jürgen Fuchs und Stefan Heym geben.

Manuelle Akten-Rekonstruktion hat ihre Grenzen: Was die Aktenpuzzler nicht schaffen

Deutlich geringer fallen die Reaktionen üblicherweise aus, wenn im Bundesarchiv eine Akte ganz normalen Bürgern brennende Fragen beantwortet: Wurde ich verfolgt? Wer hat mich verraten? Hat mein Freund tatsächlich mit der Stasi kooperiert?

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Seite für Seite rekonstruieren Antje Stendal und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Manuellen Rekonstruktion im Bundesarchiv zerrissene Stasi-Akten.
Seite für Seite rekonstruieren Antje Stendal und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Manuellen Rekonstruktion im Bundesarchiv zerrissene Stasi-Akten. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Dass sich Loders Team im Bundesarchiv der historischen Wahrheit noch heute Seite um Seite nähern muss, hat seine Ursache in den letzten Monaten der DDR. Besonders im November und Dezember 1989 ließ Stasi-Chef Erich Mielke unzählige Schriftstücke vernichten. Was die heiß gelaufenen Reißwölfe nicht schreddern konnten, wurde zunächst per Hand zerrissen. 40 bis 50 Millionen Seiten sollen es gewesen sein. Ein Fall für die Manuelle Rekonstruktion sind heute nur diese Akten.

Der Grund: Halbierte oder geviertelte Seiten lassen sich händisch zu einem Ganzen fügen. Für kleinere Schnipsel gilt das nicht. Ungefähr 90 Prozent des gesamten Materials landeten so erst gar nicht auf den Schreibtischen der Manuellen Rekonstruktion im Bundearchiv, schätzt Loder.

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Bundesarchiv arbeitet an digitaler Aufarbeitung: Erste Software war eine Enttäuschung

Um auch sie wieder lesbar zu machen, begann 2007 die virtuelle Bearbeitung der zerstörten Stasi-Akten. Das Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik entwickelte mit Bundesmitteln ein Verfahren zur computergestützten Wiederherstellung. Dieser „ePuzzler“ weckte bei seiner Präsentation große Erwartungen, hielt aber letztlich nicht, was er versprach. Binnen sieben Jahren schaffte die Software nur 23 Säcke mit 91.000 Seiten. Seit 2014 wurde nichts mehr gescannt, seit 2016 auch nicht mehr zusammengesetzt. Das Projekt ruhte.

Jetzt wagt das Bundesarchiv einen neuen Anlauf zur virtuellen Aufarbeitung des Materials aus der DDR. Ende Januar wurde bekannt, dass es die alten Verträge kündigt und nach einem neuen Technik-Anbieter Ausschau hält. Man nehme den gesetzlichen Auftrag zur Rekonstruktion zerrissener Stasi-Akten „sehr ernst“, ließ Bundesarchiv-Präsident Michael Hollmann wissen. „Weil wir im Interesse der Opfer der SED-Diktatur vorankommen wollen, haben wir uns für einen klaren Schnitt und einen Neuanfang entschieden.“

15.400 Säcke mit Schnipseln warten noch auf die Rekonstruktion. Die meisten liegen in einem Lager in Magdeburg. In Berlin-Lichterfelde (Foto) ist immer nur Platz für ein paar Dutzend.
15.400 Säcke mit Schnipseln warten noch auf die Rekonstruktion. Die meisten liegen in einem Lager in Magdeburg. In Berlin-Lichterfelde (Foto) ist immer nur Platz für ein paar Dutzend. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Stasi-Akten im Bundesarchiv rekonstruieren: Was ein Aktenpuzzler können muss

Während die Zukunft des digitalen Puzzelns unklar bleibt, arbeiten Andreas Loder und seine Mitstreiter beharrlich weiter. „Geduld, ein scharfes Auge, die ruhige Hand und ein gewisses historisches Interesse“ seien maßgeblich für den Erfolg, sagt der Chef. Mit der Zeit wisse jeder und jede, woran er oder sie sich bei der Suche orientiere: etwa an der Farbe des Papiers, der Schriftart eines Dokuments oder den Konturen der Fetzen. Manche Aktenpuzzler kamen extra für diese Aufgabe zum Bundesarchiv, andere stießen aus fremden Abteilungen hinzu.

Wie Antje Stendal, die seit sieben Jahren dabei ist. Zusammengehörige Teile beschwert sie mit Mini-Sandsäcken und fügt fehlende Abschnitte hinzu. Liegt ein Dokument fertig auf dem Tisch, Schrift nach unten, fixiert sie alles mit Spezial-Klebeband und schneidet überstehendes Material ab.

600 Säcke mit Schnipseln wurden abgearbeitet. 15.400 warten noch.
600 Säcke mit Schnipseln wurden abgearbeitet. 15.400 warten noch. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Stasi-Akten im Bundesarchiv zusammenfügen: Eine Aufgabe für die Ewigkeit?

Dann ist die Arbeit getan – und ein weiteres Stück DDR-Geschichte geht entweder in die Restauration oder direkt zu den Archivaren. Sie fügen es in den Bestand des Stasi-Unterlagen-Archivs ein. Ein Sack pro Mitarbeiter und Jahr: So schnell schreite die Manuelle Rekonstruktion aktuell voran, sagt Loder. Wann alle noch zu bearbeitenden Säcke fertig sind, wagt im Bundesarchiv niemand auch nur zu schätzen.

Es könnte viele Jahre dauern, ein paar Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte – oder es wird eine Aufgabe für die Ewigkeit. Der Archivar, der seine Archivalien selbst zusammenpuzzelt, hält sich nicht lange mit solchen Zahlenspielen auf. Jeder Sack aufs Neue könne historisch wichtige Informationen enthalten, sagt er. Und die Motivation werde im Team sowieso nicht kleiner. „Man weiß schließlich, dass man hier etwas sehr Relevantes macht.“