Berlin. Mehr als 111 Kilometer an Stasi-Akten stehen beim Bundesbeauftragten für Stasiunterlagen. Mehr als 3,3 Millionen Bürger stellten Anträge auf Akteneinsicht. “Wir wollten ja wissen, wer uns bespitzelt hatte“, erinnert sich eine SPD-Abgeordnete. Das soll auch möglich bleiben.

Rund dreißig Jahre nach der Stürmung der Berliner Stasi-Zentrale geht die Zuständigkeit für die Stasiunterlagen an das Bundesarchiv über. Das Amt des bisherigen Bundesbeauftragten wird aufgelöst, wie der Bundestag am Donnerstag in Berlin beschloss.

Dies sei kein Schlusspunkt, betonte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU). "Ganz im Gegenteil: Es bedeutet die Fortsetzung der Aufarbeitung unter gesamtdeutschen Vorzeichen."

Auch in Zukunft sollen die Akten für Bürger, Medien und Wissenschaft zugänglich bleiben. So können Menschen auch weiterhin nachfragen, ob in den Unterlagen Informationen etwa zur eigenen Person enthalten sind und Einsicht nehmen - und zwar künftig auch digital und an allen Standorten des Bundesarchivs, das auch in westdeutschen Bundesländern unter anderem in Bayreuth und Koblenz vertreten ist.

Die Akten selbst werden aber weiterhin in Berlin sowie Erfurt, Frankfurt (Oder), Halle, Leipzig und Rostock "gemäß ihrer Herkunft" verwahrt, wie es im Gesetz heißt. Akten könnten bei Bedarf aber auch zu Standorten des Bundesarchivs transportiert werden, die näher am Wohnort desjenigen liegen, der Einsicht nehmen will.

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR, kurz Stasi, bespitzelte die eigenen Bürger und sammelte auch Informationen im Ausland. Kontrolliert wurde es von der herrschenden Sozialistischen Einheitspartei SED. Das Ministerium wurde 1950 gegründet und im März 1990 endgültig aufgelöst.

Für die Neuerungen stimmten CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne - sie hatten den Gesetzentwurf gemeinsam erarbeitet. Die Linke enthielt sich, allerdings nicht aus grundsätzlicher Ablehnung, wie die Abgeordnete Simone Barrientos sagte. Ihre Fraktion habe keinen guten Grund gefunden, gegen die Neuerungen zu sein - allerdings bliebe ungeklärt, wie absehbare Kosten etwa für Konservierung, Baumaßnahmen oder die Rekonstruktion vernichteter Akten gestemmt werden sollten. "Man kann sich um die Kostenfrage nicht drücken", sagte Barrientos. Rund 15.500 Behältnisse, das meiste davon Säcke, mit per Hand zerrissenen Unterlagen stehen noch in den Archiven - zum Teil wurde es bereits rekonstruiert.

Die AfD stimmte gegen die Änderungen. Sie hatte einen eigenen Antrag präsentiert, in dem sie statt des Wechsels zum Bundesarchiv erweiterte Kompetenzen für den bisherigen Bundesbeauftragten forderte, der auch die SED-Diktatur aufarbeiten sollte, wie der AfD-Abgeordnete Götz Frömming sagte. "Denn, meine Damen und Herren, nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter sind ja noch unter uns." Wer wirklich etwas für die Opfer tun wolle, dürfe nicht seinen Frieden schließen mit den Tätern und "die real juristisch noch existierende SED in Regierungsbündnisse holen" - womit offensichtlich die Linkspartei gemeint war, die an Landesregierungen beteiligt ist.

Die SPD-Abgeordnete Katrin Budde erinnerte daran, wie die Menschen im Dezember 1989 in ihrer Heimatstadt Magdeburg die Stasi-Zentrale besetzten. Das sei überall in der ehemaligen DDR in diesen Tagen geschehen. "Wir haben die Dienststellen der Stasi besetzt, um zu verhindern, dass Akten vernichtet wurden", berichtete sie. "Der Apparat hatte danach keine Macht mehr über die Menschen. Das war sowas wie der endgültige Niedergang eines der wichtigsten Machtinstrumente der SED." Die folgende Öffnung der Akten eines Unterdrückungsapparats sei weltweit einmalig. "Wir wollten ja wissen, wer uns bespitzelt hatte."

Die Grünen-Abgeordnete Monika Lazar unterstrich: "Ohne die mutigen Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, ohne die Menschen, die später die Offenlegung der SED und des SED-Unrechts vorangetrieben haben, wäre die Forderung "Meine Akte gehört mir" nur eine hohle Phrase gewesen."

Das bisherige Amt des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen wird mit dem Wechsel der Dokumente in das Bundesarchiv aufgelöst. Stattdessen soll das neue Amt eines Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur geschaffen und - ähnlich wie der Wehrbeauftragte - beim Bundestag angesiedelt werden. Diese Ombudsperson wird vom Bundestag für fünf Jahre gewählt. Sie soll in Politik und Öffentlichkeit für die Anliegen von Opfern eintreten, zu ihrer Würdigung beitragen und einmal jährlich einen Bericht vorlegen.

Mehrere Abgeordnete betonten die Wichtigkeit von Forschung und Aufarbeitung. "Eine Gesellschaft, die stark sein will gegen populistische Verführer, braucht Forschung über totalitäre Systeme", sagte der FDP-Abgeordnete Thomas Hacker. Die Akten seien weiter wichtig, sagte Unionsfraktionsvize Gitta Connemann (CDU). Der Blick auf Unfreiheit schärfe den Blick für Freiheit und Demokratie. "Und genau diese beiden Werte gilt es zu schützen. Denn Geschichtsvergessenheit, Verharmlosung oder Schönfärberei sind brandgefährlich."

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