Wer zu früh wählt, den bestraft vielleicht später das schlechte Gewissen. Denn es lohnt sich, noch etwas abzuwarten, meint Jörg Quoos.

Die Bundestagswahl 2021 könnte als eine der auffälligsten Wahlen in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen. Sechs Wochen vor Schließung der Wahllokale schießen die Trends für die Parteien derart wild auf und ab, dass verlässliche Prognosen schwer möglich sind.

Kaum ein Polit-Profi wagt noch eine ernsthafte Vorhersage, wer nach dem 26. September in Berlin die neue Bundesregierung bildet.

Jörg Quoos
Jörg Quoos © Dirk Bruniecki

Blickt man zurück auf die Kommentare von vor wenigen Wochen, kann man sagen: Die vielen politischen Nachrufe auf Olaf Scholz kamen zu früh. Es ist bemerkenswert, wie kontinuierlich der Vizekanzler und SPD-Spitzenkandidat von Umfrage zu Umfrage punktet und allmählich auch die Partei mit sich nach oben zieht.

Laut ZDF-Politbarometer liegen SPD und Grüne jetzt gleichauf. Da ist noch nicht ausgemacht, wer – frei nach Gerhard Schröder – in einer möglichen rot-grünen Konstellation Koch oder Kellner wird.

Diese Aufwärtsentwicklung kommt für die Sozialdemokraten gerade noch rechtzeitig, schließlich treffen jetzt die Briefwahlunterlagen bei den Wählerinnen und Wählern ein. Unterstellt man wegen der Corona-Pandemie einen Rekordanteil an Briefwählern, wird diese Wahl dann besonders spannend.

Wahlkampf muss jetzt mit wirklich relevanten Themen geführt werden

Denn Millionen werden ihr Kreuz jetzt schon machen, bevor dieser seltsame Wahlkampf überhaupt richtig losgegangen ist. Das ist der Nachteil der Briefwahl, die eigentlich eingeführt wurde, um Kranken und Urlaubern die Teilnahme an der Abstimmung zu ermöglichen. Jetzt verlegt die Briefwahl den Akt des Wählens de facto um Wochen nach vorne. Mehr zum Thema: Briefwahl beginnt – Fällt jetzt schon die Wahlentscheidung?

Das Wahlvolk fällt seine Entscheidung also zu einem großen Teil aus einer Momentaufnahme heraus – mit gravierenden Folgen für die Kandidaten. Denn wer jetzt gut liegt, profitiert, wer im Keller feststeckt, hat ein Problem. Das betrifft Armin Laschet und Olaf Scholz gleichermaßen.

Der Unionsspitzenkandidat muss darauf bauen, dass er ein zweites Hoch in den Umfragen erlebt. Bereits nach dem gewonnenen Machtkampf mit Markus Söder hatte sich der nordrhein-westfälische Ministerpräsident überraschend schnell stabilisiert.

Und der SPD-Spitzenmann hofft darauf, dass sich die langsame Aufwärtsbewegung verstetigt und Richtung 26. September noch zunimmt. Für beide kommt ein früher Wahltermin per Brief eigentlich ungelegen. Besonders für Armin Laschet, dessen CDU am deutlichsten von einer Briefwahl profitiert.

Umso wichtiger ist es, den Wahlkampf jetzt schnell und ohne Mätzchen mit wirklich relevanten Themen zu führen. Wählerinnen und Wähler erwarten, dass endlich die Zukunftsfragen diskutiert werden. Wer sich dafür zu lange Zeit lässt, hat die Wahl vielleicht schon verloren.

Vielleicht sollten Briefwähler ihre Unterlagen nicht gleich abschicken

Die interessanteste politische Position ist wertlos, wenn sie zu spät kommt und der Stimmzettel schon lange in der Briefwahlurne liegt. Vielleicht sind auch die Millionen Briefwähler klug beraten, ihre Unterlagen noch liegen zu lassen und etwas abzuwarten. Bis zur Wahl kann noch vieles passieren, das die Spitzenkandidaten zwingt, Flagge zu zeigen.

Grundsätzlich fehlen noch viele Antworten der Wahlkämpfer auf drängende Fragen. Auch der heiße Schlagabtausch der potenziellen Merkel-Nachfolger beim gemeinsamen Auftritt, live im Fernsehen, wird noch aufschlussreich sein. Hier werden die Kandidatin und die Kandidaten zeigen, wie es um ihre Nervenstärke, Schlagfertigkeit und Überzeugungskraft bestellt ist. Das ist nicht unwichtig an der Spitze einer Regierung.

Es wäre doch schade, wenn mancher Wähler seine zu frühe Stimmabgabe am Wahltag noch bitter bereut.