Berlin. Nach dem Jamaika-Aus 2017 kommt auf die FDP nun wieder eine Schlüsselrolle zu. Vier Faktoren machen die Regierungsentscheidung schwer.

In ganz Deutschland ist es Nacht. Nur Christian Lindner wacht und wühlt sich im Licht einer kleinen Leselampe durch die Akten. So plakatiert die FDP ihren Parteichef und Spitzenkandidaten in diesen Tagen. Die Botschaft ist klar: Lindner, der Pflichtbewusste, der Staatsmann. Bereit, Tag und Nacht Verantwortung zu übernehmen.

„Nie gab es mehr zu tun“ ist das Kampagnenmotto der Liberalen zur Bundestagswahl. Die FDP meint damit den Reformstau. Doch das Motto hat längst eine doppelte Bedeutung bekommen: Auf Lindner kommt wieder einmal eine Schlüsselrolle zu.

Die nächtliche Szene auf den Plakaten erinnert allein angesichts der Beleuchtung an jene andere Nacht, die dem ganzen Land im Gedächtnis geblieben ist. Im November vor vier Jahren trat Lindner kurz in die Berliner Dunkelheit hinaus, blinzelte ins Licht der Fernsehkameras und verkündete das Aus der Jamaika-Verhandlungen. Seitdem hängt ihm die Frage nach, ob er eigentlich regieren will oder nicht.

Die Lage der FDP ist gut – Lindner würde trotzdem ein zweites Mal „Nein“ sagen

Gut möglich, dass diese Frage diesmal wieder gestellt wird: Sollte es nach der Bundestagswahl nur für ein Dreierbündnis reichen (wonach gerade alles aussieht), würde bei mindestens drei der denkbaren Konstellationen die FDP gebraucht. Hintergrund: Wahlumfragen: Entscheidet die FDP am Ende, wer Kanzler wird?

Ob in einem schwarz-grün-gelben Jamaika-Bündnis, einer rot-grün-gelben Ampel-Koalition oder einer Deutschland-Koalition aus Union, SPD und FDP – die anderen beiden Partner wären auf Christian Lindners Zustimmung angewiesen. Gerade noch heftig kritisiert als Neinsager der Republik ist Lindner jetzt möglicherweise der Königsmacher der nächsten Koalition.

Am 19. November 2017 trat FDP-Chef Christian ­Lindner kurz vor Mitternacht vor die Kameras und erklärte das Aus für die Verhandlungen über eine Jamaika-Koali­tion.
Am 19. November 2017 trat FDP-Chef Christian ­Lindner kurz vor Mitternacht vor die Kameras und erklärte das Aus für die Verhandlungen über eine Jamaika-Koali­tion. © picture alliance / Bernd von Jutrczenka/dpa | Bernd von Jutrczenka

Das klingt auf den ersten Blick nach einer komfortablen Lage. Doch für Lindner ist es gerade alles andere als gemütlich. Trotz der guten Umfragen, die die Liberalen bei 13 Prozent sehen – und damit bei einem besseren Ergebnis als bei der letzten Wahl. Und trotz der Tatsache, dass Lindner – anders als seine Spitzenkandidaten-Kollegen Annalena Baerbock und Armin Laschet – keine „Kann-der das überhaupt?“-Debatte an den Hacken hat.

Wer Lindner in diesen Tagen trifft, erlebt einen Mann, der regieren will, aber nicht um jeden Preis. Der sogar bereit wäre, den Shitstorm zu ertragen, wenn er ein zweites Mal Nein sagen würde. Und der sehr genau weiß, dass er mit dieser Haltung im Herbst 2021 viel gewinnen kann, aber auch viel zu verlieren hat. Mindestens vier Faktoren machen die Lage der Liberalen gerade kompliziert. Lesen Sie hier: Bundestagswahl: So eng war es noch nie

Olaf Scholz zieht die FDP der Linkspartei vor

Erstens: Sollte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz die Wahl gewinnen, will er mit den Grünen regieren. Sollte er einen dritten Partner brauchen, wären ihm die Liberalen deutlich lieber als die Linke. Soweit die Ausgangslage, falls sich die aktuellen Umfragetrends fortsetzen.

Scholz würde also Lindner umwerben – und sicher auch sanft daran erinnern, dass der FDP-Chef mit einem Ja zur Koalition mit SPD und Grünen ein Linksbündnis verhindern könnte. Er wäre sicher nicht der Einzige, der Lindner als Bollwerk gegen Rot-Grün-Rot in der Pflicht sähe – und ihm bei einem Nein zur Ampel Verantwortungslosigkeit vorwerfen würde.

Das Problem für Lindner: Die große Mehrheit der FDP-Anhänger lehnt eine Ampel ab. Es gibt zwar eine alte sozialliberale Tradition – doch die Gemeinsamkeiten? „Theoretische Konstruktion, über die viel gesprochen wird“, nennt Lindner das. Seine Sorge richtet sich dabei auch auf den möglichen Langzeitschaden.

Lindner schließt Ampel-Koalition nicht komplett aus

Was, wenn die Liberalen in einem solchen Mitte-links-Bündnis am Ende aus Koalitionsdisziplin für sie so verhasste Dinge wie Mietendeckel, Steuererhöhungen oder andere rot-grüne Projekte mittragen müssten? Würden die Liberalen 2025 die Quittung bekommen?

Die Angst jedenfalls sitzt tief – vor dem parlamentarischen Rauswurf, vor der Wiederholung des alten Traumas von 2013. Lindner bemüht sich deshalb, die ganze Debatte über eine Ampel-Koalition ins Reich der Spekulation zu verweisen: „Mir fehlt die Fantasie“, wiederholt Lindner in diesen Tagen immer wieder, was Scholz der FDP anbieten könnte, damit sie in ein solches Bündnis eintreten würde.

Ausgeschlossen hat er die Ampel damit aber nicht, die Tür bleibt einen Spalt offen. Immerhin so weit, dass die CDU ein Argument daraus machen kann: Jeder, der die FDP wähle, könne am Ende aufwachen mit SPD und Grünen, warnt deren Generalsekretär. Auch interessant: Scholz sieht Kapitulationserklärung der CDU in Klimapolitik

Lindners Lieblingsoption: Jamaika mit Kanzler Laschet

Zweitens: Lindner hat bereits sehr sichtbar sein politisches Handtuch auf das Finanzministerium gelegt. Das wiederum dürfte auch Grünen-Parteichef Robert Habeck beanspruchen wollen. Als aktuell stärkere Partei hätten die Grünen ein gewichtiges Argument in Koalitionsverhandlungen um ein Dreierbündnis – egal, ob Jamaika- oder Ampel-Koalition. Lindner müsste sich überlegen, ob er diesen Punkt zur Sollbruchstelle erklärt.

Drittens: Selbst wenn Olaf Scholz den Liberalen ein Rundum-sorglos-Paket anbieten würde, um sie von einer Ampel zu überzeugen, würde es nicht leicht. Die FDP könnte sich dann zwar als bürgerliche Kraft profilieren – stünde aber gleichzeitig im Dauerfeuer der Union, die vom ersten Tag an in der Opposition zum Sturm auf die Regierung blasen dürfte. Lindner, so viel ist klar, wünscht sich nach wie vor von allen Dreierbündnissen am liebsten eine Jamaika-Koalition mit Laschet als Regierungschef.

Selbst wenn der CDU-Mann nur als Zweiter durchs Ziel gehen sollte? Ein sicheres Aus wäre das nicht: SPD-Kanzler Helmut Schmidt regierte immerhin nach den Wahlen von 1976 und 1980 zwei Mal mit den Liberalen – obwohl er nur Zweiter und die Union die stärkste Kraft geworden war.

Springen die FDP-Wähler noch ab zur Union?

Viertens: Je schwächer Laschet und die Union in den letzten Umfragen vor der Wahl abschneiden, desto größer wird die Gefahr, dass es zu Rettungsmanövern im bürgerlichen Lager kommen könnte. Sprich: So sehr mancher wirtschaftsnahe, konservative Wähler den freiheitlichen Kurs der FDP schätzt, so groß könnte die Angst gerade unter diesen Wählern sein, dass die Union das Kanzleramt an ein Linksbündnis verliert. Die Folge: Mancher FDP-Freund könnte strategisch wählen und diesmal lieber die Union retten wollen.

Heißt: Die 13 Prozent der Freien Demokraten könnten schnell schrumpfen. Und die Karten wären wieder komplett neu gemischt.