Peking. Staat statt Markt, Partei statt Freiheit: China schlägt einen neuen Kurs ein. Ultralinke fordern “Säuberungen“, Kritiker befürchten eine “neue Kulturrevolution“. Xi Jinping geht es vor allem um Kontrolle.

Plötzlich werden totgeglaubte "rote Geister" geweckt. In China tobt eine heftige Debatte über die Frage, wo Staats- und Parteichef Xi Jinping das Milliardenreich hinsteuert.

Die laufende "Regulierungskampagne" gegen mächtige Tech-Riesen, Skandale im Showgeschäft, Auswüchse im Online-Gaming und Missstände im Bildungssektor lassen Ultralinke leidenschaftlich nach einer "Säuberung des Hauses" und einer noch radikaleren Kurskorrektur rufen. Ihre Kritiker wiederum warnen vor einer "neuen Kulturrevolution", sie befürchten die Wiederkehr alter Zeiten, die nur Chaos gebracht hatten.

Ungeahnte Prominenz erreichte ein pensionierter Redakteur mit einem feurigen Artikel, der gegen "verweichlichte Männer", Showstars, Kapitalmärkte und Manipulationen "kapitalistischer Cliquen" und eine "Verehrung westlicher Kultur" wetterte. Li Guangman sah in dem Ordnungsdrang der Behörden, die eine Branche nach der anderen aufs Korn nehmen, um "für Ordnung zu sorgen", eine "tiefe Revolution".

Er feierte eine "Rückkehr zum revolutionären Geist, zum Heldentum" und zur "Essenz des Sozialismus". "Die Transformation wird allen Staub wegwaschen", benutzte der Autor ausgerechnet einen bekannten kulturrevolutionären Spruch. Seine Kampfschrift wurde erst von linken Webseiten verbreitet, dann aber auch von wichtigen Sprachorganen der kommunistischen Propaganda wie der "Volkszeitung", was Zustimmung von ganz oben vermuten ließ.

Leichte Kritik in den Staatsmedien

Moderate Kräfte erschauderten und erinnerten daran, wie in den 1960er Jahren ähnlich polemische Attacken gegen die kulturelle Elite die Kulturrevolution (1966-76) ausgelöst hatten. Damals nutzte der "ewige Revolutionär" Mao Tsetung die Stimmung, um die Massen aufzuheizen und gegen seine parteiinternen Gegner loszulassen.

Deswegen erhoben sich sofort mahnende Stimmen. Der Autor wolle den Menschen weismachen, "dass die Reform- und Öffnungspolitik über 40 Jahre furchtbar schief gelaufen sei", kritisierte Gu Wanman, früher Redakteur der Staatsagentur Xinhua. "Als wollte er fast ausrufen: Eine zweite Kulturrevolution ist nur allzu notwendig!" Selbst der häufig auch polemisierende Chefredakteur der "Global Times", Hu Xijin, kritisierte "Übertreibungen", die Verwirrung stifteten. Es gehe nicht um eine "Revolution", sondern um normale Regulierungen des Marktes zur Förderung von Gerechtigkeit und Wohlstand.

Doch die Diskussion über die Frage will nicht verstummen: Droht China wirklich eine "neue Kulturrevolution"? "Sicher nicht im Sinne der tiefgreifenden ideologischen Kampagne unter Mao, die über eine Dekade die Gesellschaft aufgewühlt und Hunderttausende Menschenleben gefordert hat", sagt Katja Drinhausen vom Merics Institut in Berlin. "Denn was Xi Jinping will, ist innenpolitische Stabilität, um die Macht der Partei und Chinas Aufstieg zur wirtschaftlichen und technologischen Weltmacht abzusichern."

Parallelen zur Rhetorik unter Mao

"Teil dieser Vision ist aber auch, dass alle - Kader, Unternehmer und Bürger - auf eine politische Linie eingeschworen werden", sagt Drinhausen. "Es geht um Kontrolle über Positionen, Narrative und Verhalten, um gesellschaftliche Verwerfungen zu verhindern." Die Methoden und das Vokabular, mit denen derzeit gegen Andersdenkende vorgegangen werde, "weisen allerdings durchaus Parallelen mit den politischen Kampagnen unter Mao auf", stellt die Expertin fest.

In der Kulturrevolution gehörte Xi Jinpings Vater Xi Zhongxun, Mitglied der ersten Führungsgeneration, zu den Millionen Verfolgten. Auch der heutige Parteichef wurde damals aufs Land geschickt. Vor drei Jahren urteilte Xi Jinping, die Kulturrevolution habe "Chinas Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs gebracht".

Aber in einem Wiedererstarken der Partei und der zentralisierten Kontrolle über Wirtschaft und Gesellschaft sieht Xi Jinping heute Chinas Zukunft. So stößt der Staat wieder in Bereiche vor, aus denen er sich längst zurückgezogen hatte. Auch ruft Xi Jinping plötzlich nach "allgemeinem Wohlstand", was die Reichen erzittern lässt. Staat statt Markt, Partei statt Kapital. Die Verunsicherung ist groß, auch unter deutschen und anderen ausländischen Unternehmen.

Streit innerhalb der kommunistischen Führung?

Vizepremier Liu He sieht sich schon gezwungen, zu beteuern, dass die kommunistische Führung die Privatwirtschaft weiter unterstützen wolle, "was sich nicht geändert hat und sich auch in Zukunft nicht ändern wird". Auch das Parteiorgan "Volkszeitung", versicherte auf der Titelseite die "unerschütterliche Unterstützung" für den Privatsektor, den Wettbewerb und den Schutz ausländischen Kapitals.

"Diese Debatte deutet darauf hin, dass innerhalb der Kommunistischen Partei eine Auseinandersetzung über den Wert von Reform und Öffnung und darüber wütet, wo China heute hinsichtlich sozialer und politischer Stabilität steht - und was für eine Nation China werden will", meint Liu Yawei, China-Berater am Carter Center in den USA und Chefredakteur des "US-China Perception Monitor".

Parallelen zwischen dem alten und neuen "großen Vorsitzenden" sieht auch David Shambaugh: "Mao und Xi sind beide Diktatoren", sagt der China-Experte in einem Interview dem Blatt "The Diplomat". "Keiner von beiden hat Toleranz für abweichende Meinung und Ungehorsam, egal auf welcher Ebene - und beide regieren mit eiserner Hand."

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