Berlin. Die Depressionshilfe warnt vor den Folgen der Corona-Maßnahmen. Experten erklären, wie der Verlust von Struktur und Isolation wirkt.

„Wenn ich normalerweise ins Büro fahre, bin ich eine halbe Stunde unterwegs. Jetzt gehe ich aus der Schlafzimmertür raus, gehe über den Flur und öffne die Tür zu meinem Homeoffice-Arbeitsplatz. Mich trennt nichts mehr. Früher gab es zwei Welten, die berufliche Welt und die private, jetzt sind diese beiden verschmolzen und ich kann den beruflichen Stress nicht mehr hinter mir lassen“, der etwa 45-jährige Mann ist einer der Betroffenen, die in einem Video der Deutschen Depressionshilfe über ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie berichten. Alle, die hier sprechen, sind an einer Depression erkrankt.

Ein anderer Mann mit Bart und Brille erzählt, wie er am Anfang der Pandemie einen „harten Absturz“ erlebte: „Ich konnte wieder tagelang nur liegen. Ich sehe das dann auch, merke, dass ich etwas tun muss, aber ich weiß nicht was“. Inzwischen belasten ihn selbst die Stimmen seiner Kinder manchmal: „Die Kinder sind dünnhäutiger, ich aber auch.“

Corona: Jedem fünfte Beschäftigten mit Depression

Auch der zweite Winter der Corona-Pandemie wirkt für die Psyche vieler Menschen belastend. Viele Erwachsene leben im Dauerstress. Es gibt viele, die sich um ihre berufliche Zukunft sorgen, die unter der Quarantäne und dem Lockdown leiden oder die das Homeoffice und das Homeschooling an ihre Grenzen bringt. Das repräsentative Befragung Deutschland-Barometer Depression, die von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe durchgeführt und von der Deutschen Bahn Stiftung gefördert wird, hat 2021 herausgefunden, dass bei jedem fünften Beschäftigten in Deutschland schon mal eine Depression diagnostiziert wurde.

Den ersten Lockdown hätten 59 Prozent der Befragten als „bedrückend“ empfunden, den zweiten Lockdown aber schon 71 Prozent, zudem erlebten mehr Befragte „andere Menschen als rücksichtsloser“ und fühlten sich „stärker familiär belastet“. Insgesamt nehmen Experten wie Professor Ulrich Hegerl, Psychiater und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, eine „breite Demoralisierung“ in der Bevölkerung wahr.

Professor Ulrich Hegerl, Psychiater und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Depressionshilfe, warnt vor den Folgen der Corona-Maßnahmen für Menschen mit psychischen Problemen.
Professor Ulrich Hegerl, Psychiater und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Depressionshilfe, warnt vor den Folgen der Corona-Maßnahmen für Menschen mit psychischen Problemen. © Stiftung Deutsche Depressionshilfe | Stiftung Deutsche Depressionshilfe

Corona-Maßnahmen und Depression: „Eine Achterbahn der Gefühle“

Eine junge Frau mit lila gefärbten Haaren empfand den Beginn der Pandemie zunächst als „Achterbahn der Gefühle“, weil es ihr erst „wirklich gut“ ging. Sie genoss es sogar, dass sich wegen der Corona-Maßnahmen alle Menschen einschränken mussten. Das habe in ihr ein Gefühl der Solidarität ausgelöst, sie fühlte sich als Teil der Gesellschaft. Doch bald bemerkte sie, dass das nur so war, weil sie sich erstmals mit ihrer Einsamkeit nicht allein fühlte. Wenn man so will, nahm sie die Einschränkungen wegen der Corona-Maßnahmen als positives Gemeinschaftsgefühl war. Während der Depression habe es ihr geholfen, in Videokonferenzen mit Freunden und Verwandten zu sprechen.

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Eine stille Katastrophe: Schlechtere Versorgung, wegbrechender Alltag

Besonders für Menschen, die unter einer depressiven Erkrankung leiden, hat sich der Krankheitsverlauf durch die Maßnahmen gegen Corona massiv verschlechtert, zum einen wegen den deutlichen Einschnitten bei ihrer medizinischen Versorgung und zum anderen wegen einer wegbrechenden Alltagsstruktur mit Rückzug ins Bett, vermehrtem Grübeln und weniger Sport. Das seien Faktoren, die sich ganz spezifisch bei depressiv Erkrankten negativ auswirken würden.

Psychiater Hegerl hält die Folgen der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie für dramatisch: „Bei unseren Befragungen gaben hochgerechnet ungefähr zwei Millionen Menschen in Deutschland an, dass sich ihre Erkrankung im Jahr 2021 verschlechtert habe. Das ist eine stille Katastrophe, denn Depressionen sind schwere, oft lebensbedrohliche Erkrankungen.“ Im Februar letzten Jahr berichteten 44 Prozent der Menschen mit Depression von Rückfällen, der Entwicklung von Suizidgedanken oder sonstigen Verschlechterungen in Folge der Corona-Maßnahmen.

Suizid: Mehr Menschen mit Depressionen haben versucht, sich das Leben zu nehmen

Die Zahl der Suizide lag im Jahr 2020 in Deutschland laut Statistischem Bundesamt bei 9206 und damit über dem Wert von 2019 mit 9041 Fällen. Drei Viertel der Betroffenen waren Männer, ein Viertel Frauen. „Ich schätze, dass es im Rahmen der Pandemie einen Anstieg insbesondere bei den Suizidversuchen gegeben hat“, sagt Ulrich Hegerl, der sich dabei auf aktuelle Befragungen unter Patienten mit Depressionen bezieht.

Gründe seien die schlechtere medizinische Versorgung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, Abstürze von Menschen mit Suchtgefährdung oder die fehlende mitmenschliche Hilfe in Krisensituation durch die soziale Isolation. Die Suizidversuche werden allerdings bei Erwachsenen in Deutschland nicht systematisch erfasst.

Auch Kinder leiden psychisch unter den Corona-Maßnahmen

Gerade veröffentlichte die Essener Universitätsklinik eine Studie, wonach bis zu 500 Kinder nach Suizidversuchen zwischen März und Ende Mai 2021 auf Intensivstationen behandelt werden mussten. Die mit dem Lockdown verbundene soziale Isolation habe vor allem Kinder belastet, die schon zuvor unter Depressionen oder Angststörungen gelitten hätten, erklärte Professor Christoph Dohna-Schwake, Leiter der Kinder-Intensivstation der Essener Uni-Klinik Anfang Januar.

Depressionen und sogenannte Anpassungstörungen sind auch die mit Abstand häufigsten Erkrankungen, die derzeit zur Aufnahme einer Psychotherapie führen. Eine Anpassungsstörung ist eine Reaktion auf ein belastendes Lebensereignis, zum Beispiel auf einen Trauerfall. Dies kann sich in negativen Veränderungen des Gemütszustands oder auch in Störungen des Sozialverhaltens ausdrücken. Gerade die Anpassungsstörungen sind 2020 vermehrt ein Grund für eine Krankschreibung gewesen, berichtet die Deutsche Angestellten Krankenkasse auf Nachfrage unserer Redaktion.

2020 fielen 64 Arbeitsunfähigkeitstage je 100 Versicherte auf diese Diagnose, das beschreibt einen Anstieg von acht Prozent gegenüber dem Vorjahr. Damit liegen die Anpassungsstörungen auf Platz 2 der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen. Auf Platz 1 liegen die Depressionen, die etwa 105 AU-Tage je 100 Versicherte ausmachten.

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    Krankenkassen bemerken größere Nachfrage nach Plätzen für Psychotherapie

    Wie die DAK kann auch die Techniker Krankenkasse immer wieder in den Herbst und Wintermonaten einen Anstieg der Antragszahlen für eine Psychotherapie verzeichnen. Für das Jahr 2020 meldet die TK sogar eine „leichte Zunahme“ an Behandlungsanträgen von nicht zugelassenen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten.

    Die Deutsche Depressionshilfe berichtet, dass die Corona-Maßnahmen zu massiven Einschnitten in der Versorgung psychisch erkrankter Menschen geführt haben: 22 Prozent der Befragten in einer depressiven Phase berichten von ausgefallenen Facharzt-Terminen in den letzten sechs Monaten (September 2020 – Februar 2021), bei 18 Prozent fiel ein Termin beim Psychotherapeuten aus. 21 Prozent geben an, von sich aus Behandlungstermine aus Angst vor Ansteckung abgesagt zu haben.

    GKV sieht keinen Mangel an Therapieplätzen

    Von einem Versorgungsengpass will indes der GKV, die Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen in Deutschland, nichts wissen. Die Pressestelle des GKV verweist dazu auf eine Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) aus dem Jahr 2019, danach gaben 33 Prozent der Befragten an, ihre psychotherapeutische Behandlung habe „sofort“ oder nach dem Erstgespräch begonnen, 13 Prozent habe eine Woche gewartet, 8 Prozent drei Monate, der Rest habe länger gewartet, wartet immer noch oder weiß es nicht.

    Der GKV verweist zudem auf eine Erhebung des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WIdO) aus dem Jahr 2014. Danach gaben rund die Hälfte der Versicherten an, innerhalb von vier Wochen einen Termin für ein Erstgespräch erhalten zu haben. Immerhin, so heißt es in der GKV-Antwort, liege die psychotherapeutische Versorgung gesetzlich Versicherter in Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern im Spitzenbereich. In anderen Ländern müssen Patienten und Patientinnen ihre psychotherapeutische Behandlung in der Regel privat bezahlen.

    Deutsche Depressionshilfe sieht die Politik in der Pflicht

    Ulrich Hegerl von der Deutschen Depressionshilfe sieht die Politik in der Pflicht. „Menschen mit Depressionen leiden im Stillen und sind krankheitsbedingt sehr schlecht im Vertreten eigener Interessen. Bei einer Verengung des Blicks auf das Infektionsgeschehens bleibt ihr Leid im Dunkeln. Nur wenn die politischen Entscheidungsträger das an Leid und Tod, das durch die Corona-Maßnahmen ausgelöst wird, systematisch und sorgfältig erfassen, können sie die Maßnahmen optimieren und sicher sein, nicht mehr Schaden als Nutzen anzurichten.“