Delhi/Berlin. In Indien ist die Angst vor Hunger größer als vor Corona. Die Zahlen steigen. Das könnte die globale Pandemiebekämpfung erschweren.

  • Indien kämpft gegen steigende Corona-Zahlen: Hunderttausende Neuinfektionen werden täglich registriert
  • Als Grund für den Anstieg wird eine vermutlich gefährlichere Mutation verantwortlich gemacht
  • Aufgrund der katastrophalen Zahlen hat Indien jetzt den Export von Corona-Impfstoff gestoppt - das könnte Folgen haben

Als der Test ergab, dass Ravi (Name geändert) Corona hat, rannte der Tagelöhner davon und verschwand in den Gassen des Slums Lalbagh in der indischen Megacity Delhi. Der 38-Jährige wollte sich nicht in eines der Quarantänezentren begeben.

Mindestens 14 Tage hätte der alleinige Ernährer seiner Familie dort festgesessen, ohne eine einzige Rupie verdienen zu können. Zu Hause bleiben kam nicht infrage, zu groß war die Gefahr, dass er in der kleinen Hütte mit einem Raum seine Frau und die vier Kinder ansteckt.

Maske? Abstand? Beim Kumbh Mela, dem größten hinduistischen Fest der Welt, spielt, wie hier am 12. April, die Corona-Gefahr keine Rolle.
Maske? Abstand? Beim Kumbh Mela, dem größten hinduistischen Fest der Welt, spielt, wie hier am 12. April, die Corona-Gefahr keine Rolle. © AFP | Money Sharma

Mehr als 235.000 Neuinfektionen am Tag

Niemand weiß, wie viele Menschen Ravi auf seiner Flucht angesteckt hat, bevor er sich nach Tagen stellte. Doch Verzweifelte wie er sind einer der Gründe, warum die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Indien seit Ende März explodiert. Zuletzt meldete das indische Gesundheitsministerium mehr als 235.000 Neuinfektionen. Lesen Sie auch: Humanitäre Katastrophe: Corona-Lage in Brasilien eskaliert

Nie zuvor haben sich in Indien so viele Menschen an einem Tag mit dem Virus angesteckt. Da in der größten Demokratie der Welt nach wie vor wenig getestet wird, dürfte die tatsächliche Zahl der Infizierten noch viel höher liegen. Mehr zum Thema: Corona-Gedenken an die Toten der Pandemie: "Es zerreißt uns das Herz"

Mit rund 14,3 Millionen Erkrankten und mehr als 177.000 Toten ist Indien nach Angaben der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität mittlerweile nach den USA das Land mit den meisten Infizierten. Aufgrund der katastrophalen Zahlen hat Indien jetzt den Export von Corona-Impfstoff gestoppt. Impfkampagnen in aller Welt könnten so ins Stocken geraten.

Die heftige zweite Welle im Slum brechen

Tagelang war Shiv Kumari auf der Suche nach dem coronapositiven Ravi. Als staatliche Gesundheitshelferin, die ehrenamtlich für die Hilfsorganisation World Vision arbeitet, will sie helfen, die heftige zweite Welle im Slum, in dem sie aufwuchs, zu brechen. Sie berichtet, dass viele Krankenhäuser in der Nähe des Slums bereits an ihre Grenzen stoßen und Corona-Patienten abweisen.

Zuletzt gab es allein in der indischen Hauptstadt mehr als 17.000 Neuinfektionen pro Tag, unter den Erkrankten sind auch immer mehr Kinder, einige Krematorien mussten zusätzliche Öfen in Betrieb nehmen.

Angst zu verhungern

„Auch wenn die Zahl der Infektionen gerade rasant steigt, haben die Menschen eher Angst, dass sie wegen einer Zwangsquarantäne oder eines zweiten harten Lockdowns verhungern könnten, als dass sie am Virus sterben. Deshalb wollen viele sich nicht testen lassen“, berichtet die 42-Jährige. Mit der weltweit größten Ausgangssperre versuchte Indien zu Beginn der Pandemie den Corona-Kollaps zu verhindern. Auch interessant: Ende der Corona-Krise: Jetzt legt China den Turbo ein

Impfen, so viele und so schnell wie möglich – sofern es Impfstoff gibt.
Impfen, so viele und so schnell wie möglich – sofern es Impfstoff gibt. © AFP | NARINDER NANU

Die Auswirkungen auf die Wirtschaft waren katastrophal, Staat und Hilfsorganisationen mussten Millionen Menschen mit Lebensmittelhilfslieferungen unterstützen. Doch die zunächst relativ geringen Infektions- und Todeszahlen schienen Premier Narendra Modi recht zu geben.

Kumbh Mela: Millionen Menschen feiern

Seit Anfang Juni letzten Jahres wurde der strikte Lockdown schrittweise gelockert – bis Anfang April beim Kumbh Mela, dem größten hinduistischen Fest der Welt, Millionen Menschen zusammenkamen, um gemeinsam und oft ohne Abstand und Maske zu feiern und im Ganges zu baden.

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Auch wenn die Teilnahme offiziell nur mit einem negativen Corona-Test erlaubt war, wurden die Feierlichkeiten sowie überlaufene Wahlkampfveranstaltungen und gut besuchte Cricket-Spiele zu Superspreader-Events.

Mutante ansteckender, gefährlicher und tödlicher

„Viele Menschen haben mittlerweile die Angst vor dem Virus verloren“, sagt Suvirajh John, Chefarzt am renommierten Sir-Ganga-Ram-Krankenhaus in Delhi. Nach Angaben des Arztes ist die jetzt in Indien vorherrschende Virusmutation ansteckender und wahrscheinlich auch gefährlicher und tödlicher als das Virus der ersten Welle.

Viele Krankenhäuser füllten sich jetzt deshalb schnell mit Covid-19-Patienten. Hunderte Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegerinnen haben den Kampf gegen Corona schon mit dem Leben bezahlt.

Schlange stehen für den Nasenabstrich: Teststation vor einem Krankenhaus in Hyderabad.
Schlange stehen für den Nasenabstrich: Teststation vor einem Krankenhaus in Hyderabad. © AFP | NOAH SEELAM

Alle Menschen über 45 Jahre impfberechtigt

Neben zeitlich und regional beschränkten Lockdowns soll nun die weltweit größte Impfkampagne Indien im Kampf gegen das Virus helfen. Mittlerweile sind alle Menschen über 45 Jahre impfberechtigt. Mehr als 122 Millionen Menschen wurden nach Angaben des indischen Gesundheitsministeriums bereits überwiegend mit Covishield, dem in Indien produzierten Impfstoff von Astrazeneca, mindestens einmal geimpft.

300 Millionen sollen es laut Plan werden. Doch die Kampagne stockt: Der Nachschub fehlt. Lesen Sie auch: Corona: Impfstoff-Typ könnte Ursache für Thrombosen sein

Indien – die Apotheke der Welt

Einer der Gründe für den Impfstoffmangel ist der Export von 60 Millionen Impfstoffeinheiten in über 75 Länder. Indien bezeichnet sich gern als Apotheke der Welt, die den weltgrößten Impfstoffhersteller Serum Institute of India beheimatet. Auch die UN-Initiative Covax, die arme Länder mit Corona-Impfstoff versorgt, hat davon profitiert.

Als Reaktion auf die Gesundheitskrise im eigenen Land verbot das indische Gesundheitsministerium am 11. April den Export des gegen Corona zugelassenen Medikaments Remdesivir. Nach dem Motto „India First“ sollen zudem voraussichtlich bis mindestens Ende Juni keine Corona-Impfstoffe mehr ausgeführt werden.

Einer der größten Impfstoffhersteller der Welt

„Als einer der größten Impfstoffhersteller der Welt hat Indien eine Verantwortung, ärmeren Ländern zu helfen. Aber jetzt hat die Regierung zunächst vor allem die Pflicht, die eigene Bevölkerung zu schützen“, erklärt Suvirajh John den Schritt.

Zudem weist der Mediziner darauf hin, dass die ganze Welt ein Interesse daran haben sollte, dass Indien seine Impfkampagne beschleunigen kann. „Wir leben in einer globalisierten Welt. Indien hat mehr als 1,3 Milliarden Einwohner. Die Pandemie kann weltweit nur besiegt werden, wenn auch die Schlacht in Indien gewonnen wird.“