Berlin . Der Verfassungsschutz sieht die Radikalisierung der Querdenker-Proteste mit großer Sorge. Behörden warnen vor einer Spirale der Gewalt.

Das Coronavirus hat Deutschlands Gesundheitssystem an seine Grenzen gebracht. Doch die Pandemie setzt auch die Sicherheitsbehörden unter Druck. Extremisten und Terroristen würden nicht in den Corona-Lockdown gehen, sagt der Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang. Sie würden stattdessen die Pandemie und die Maßnahmen der Regierungen zum Schutz der Bevölkerung für ihre Propaganda nutzen.

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Zwei Trends sieht der Inlandsgeheimdienst: Zum einen habe die Pandemie mit Blick auf die „Querdenken“-Bewegung „neue extremistische Bewegungen“ hervorgebracht. Zum anderen hätten Extremisten ihre Propaganda und Vernetzung während der Corona-Krise ins Internet verlagert, in die sozialen Netzwerke und Messengerdienste wie Telegram. Es ist eine „Hetze aus dem Homeoffice“, wie Verfassungsschutz-Chef Haldenwang sagt.

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Innenminister Seehofer: Bürgerliche distanzieren sich nicht von Radikalen

Während des vergangenen Jahres und zu Beginn dieses Jahres hatte es mehrfach Demonstrationen der Querdenken-Bewegung gegeben, die zuerst vom Verfassungsschutz in Baden-Württemberg beobachtet wurde. Zwar haben die Proteste mittlerweile deutlich an Teilnehmern verloren, dennoch zeigt sich Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) beunruhigt: „Die Bedrohungslage hat während der Pandemie zugenommen“, sagte er. „Besonders besorgt muss uns machen, dass sich die bürgerlichen Demonstranten nicht klar von den rechtsextremistischen abgegrenzt haben.“

Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz: Thomas Haldenwang
Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz: Thomas Haldenwang © Getty Images | Pool

Fachleute sehen ein Abflachen der Proteste, immer weniger Menschen kommen zu den Protestmärschen der Corona-Leugner. Doch die Akteure, die in der Szene bleiben, werden immer radikaler.

„Im Zuge des sich ausweitenden Protestgeschehens erfuhren auch vermehrt die Verschwörungstheorien Aufwind, die sich zum Teil ganz konkret gegen staatliche Vertreter, einzelne gesellschaftliche Gruppen oder die freiheitliche demokratische Ordnung richten“, sagt Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) unserer Redaktion. „Das sind nicht irgendwelche Hirngespinste. Das ist eine neue, reelle Gefährdungslage, die wir mir Sorge beobachten. Deshalb werden wir die länderübergreifende nachrichtendienstliche Zusammenarbeit hier weiter intensivieren und auch standardisieren.“

Die Gewaltbereitschaft wächst – von links und rechts

Vor allem eines bereitet den Sicherheitsbehörden Sorgen: Die gewachsene Gewaltbereitschaft. Vor allem von rechts, aber auch von links. 40 Prozent der bekannten extremen Rechten gelten laut Verfassungsschutz als gewaltbereit. In keiner radikalen Szene sei diese Quote so hoch. Die Zahl der extremen Rechten sei auf etwa 33.300 Personen angewachsen.

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Im Jahr 2020 stieg die Zahl rechtsextremistischer fremdenfeindlicher Gewalttaten um 7,3 Prozent an (746 Delikte, 2019: 695). Das geht aus dem aktuellen Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz hervor. Im Jahr 2020 stieg die Anzahl der rechtsextremistisch motivierten Körperverletzungen mit fremdenfeindlichem Hintergrund um zehn Prozent.

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Gerade der hohe Grad an Waffen in der Szene der sogenannten „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ beunruhigt die Sicherheitsbehörden. Gerade diese Gruppierungen hätten die die Maßnahmen der Regierung im Zuge der Corona-Pandemie für ihre Propaganda genutzt. Unter den sogenannten „Querdenken“-Protesten waren immer wieder Reichsbürger stark präsent. „Die Szene hat sich weiter radikalisiert und vergrößert“, sagt Bundesamt-Präsident Haldenwang.

Neue rechte Gruppierung vernetzen sich – auch mit der AfD

Gewachsen sei auch die Vernetzung zwischen den Gruppen der „Neuen Rechten“, die von der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ bis zum rechtsnationalen AfD-Flügel-Ableger reicht. Zudem blickt der Inlandsgeheimdienst auf den neurechten Verlag „Antaios“, sieht aber auch die Jugendorganisation der AfD, die JA, als Teil dieses Netzwerks.

BfV-Präsident warnt vor einem Aufstacheln von rechten und linken Extremisten. So sehen die Sicherheitsbehörden nicht nur die Gewalt von rechts mit Sorge, sondern auch Angriffe durch Linksradikale – auf Büros von AfD-Politikerinnen und Politikern, auf einzelne rechtsextremen Szeneobjekte, aber auch einzelne Angriffe auf Polizeibeamte etwa während Umweltschutzaktionen wie das Abholzen von Wäldern.

Hessen, Wiesbaden: Eine Demonstrantin steht bei einer Kundgebung der
Hessen, Wiesbaden: Eine Demonstrantin steht bei einer Kundgebung der "Querdenken"-Bewegung mit einem Plakat mit der Aufschrift "Willkommen in Diktatur - Sie verlassen Demokratie", das einem Ortsschild nachempfunden ist. © dpa | Frank Rumpenhorst

Der „Politisch motivierten Kriminalität – links“ wurden 10.971 (2019: 9.849) Straftaten zugeordnet, hiervon 1.526 (2019: 1.052) Gewalttaten – ein Plus von 45 Prozent. Von den linksextremistisch motivierten Gewalttaten wurden 776 Fälle (2019: 467) den „Gewalttaten gegen die Polizei/Sicherheitsbehörden“ zugeordnet, ein Anstieg um knapp zwei Drittel. Angriffe gegen den Staat, seine Einrichtungen und Symbole sind stark um fast 80 Prozent auf 681 angewachsen.

FDP kritisiert: Staatstrojaner ist nicht der Weg im Kampf gegen Extremisten

Verfassungsschutz-Chef Haldenwang warnt vor einer „Brutalität und Gewaltbereitschaft“, mit denen sich die deutschen Sicherheitsbehörden auch durch linke Extremisten konfrontiert sehen.

Der FDP-Innenexperte Benjamin Strasser hob hervor: „Die Corona-Pandemie ist offensichtlich der Brandbeschleuniger für politischen Extremismus.“ Die „rasch zunehmende Radikalisierung den Sicherheitsbehörden bislang unbekannter Personen und die hohe Gewaltorientierung muss mit den richtigen Maßnahmen bekämpft werden“.

Als Mittel im Kampf gegen Extremismus lehnt Strasser die Überwachung von Online-Kommunikation durch den Verfassungsschutz ab. Stattdessen müsse der Geheimdienst seine Analysen in den Chatforen im Internet verstärken, den „Echokammern für extremistischen Hass“, wie Strasser sagt.