Luxemburg. Der Europäische Gerichtshof hat die Hürden für Kläger im Dieselskandal gesenkt. Was das jetzt für Betroffene in Deutschland bedeutet.

Spektakuläre Wende in der Aufarbeitung des Diesel-Abgasskandals: Autokäufer können jetzt vor Gericht viel leichter Schadenersatz einklagen, wenn ihr Fahrzeug mit unzulässiger Abgastechnik ausgestattet ist oder war. Es genügt bereits, wenn der Hersteller fahrlässig übersehen hat, dass eine eingebaute Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung nicht zulässig ist - vorsätzliche Täuschung ist keine Voraussetzung. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Dienstag in einem mit Spannung erwarteten Urteil entschieden. Damit sind die Hürden für Kläger deutlich gesenkt.

Das oberste EU-Gericht korrigierte mit seiner Entscheidung auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) in Deutschland: Der sprach Diesel-Klägern bisher nur Schadenersatz zu, wenn sie dem Autohersteller eine vorsätzliche und sittenwidrige Täuschung nachweisen konnten – was der BGH bislang nur in seinem Urteil zum berüchtigten VW-Motor EA189 als gegeben ansah.

Streit um Thermofenster bei der Abgasreinigung

Die EU-Richter entschieden in dem Fall der Schadenersatzklage eines Autofahrers aus Deutschland, der 2014 von einem Autohändler einen ein Jahr alten Mercedes C20 CDI für knapp 30.000 Euro gekauft hatte. Der Käufer sah sich vom Hersteller getäuscht, als er herausfand, dass die Motorsteuerung ein sogenanntes Thermofenster enthielt.

Dabei handelt es sich um ein Teil, das bei kühleren Temperaturen die Abgasreinigung drosselt – und damit für höhere Stickoxid-Emissionen sorgt. Mercedes und andere Autohersteller begründen die Technik mit dem notwendigen Motorschutz. Umweltorganisationen vermuten aber, es sollten unter Testbedingungen günstigere Emissionen vorgetäuscht werden als in der Praxis zu erzielen sind.

Thermofenster: Was Mercedes zu den Vorwürfen sagt

Das oberste EU-Gericht hatte Thermofenster schon im Juli vergangenen Jahres für unzulässig erklärt, es sei denn, der Fahrer werde damit vor plötzlichen, überraschenden Motorschäden geschützt; wann dies der Fall ist, müssen nationale Gerichte klären. Nach einem weiteren EuGH-Urteil dürfen auch Umweltverbände gegen die Zulassung von Autos mit Thermofenster gerichtlich vorgehen. In dem verhandelten Fall zog der Käufer im Zuge des Abgas-Skandals vor das Landgericht Ravensburg und forderte wegen des Thermofensters Schadenersatz wegen vorsätzlicher und sittenwidriger Täuschung.

Die Mercedes-Benz Group AG (bis Februar 2022 Daimler AG) wies das zurück und erklärte, die Technik habe nicht wie andere Abschalteinrichtungen zur Manipulation von Zulassungstests gedient, sondern habe Schädigungen am Motor verhindern sollen, die andernfalls bei niedrigen Außentemperaturen durch Kondensation von Abgasbestandteilen drohten. Außerdem habe das Fahrzeug über eine wirksame EG-Typgenehmigung verfügt.

Der Bundesgerichtshof war dieser Argumentation bisher gefolgt und hatte mehrere Klagen wegen Thermofenstern abgelehnt. Aber das Landgericht Ravensburg rief nun die EU-Richter an, weil es zwar kein sittenwidriges Verhalten des Herstellers erkannte, aber Schadensersatz schon aufgrund bloßer Fahrlässigkeit für möglich hielt.

Deutsches Gericht muss über Schadensbemessung entscheiden

Der EU-Gerichtshof folgte nun dem Kläger: Das Recht der Europäischen Union schütze die Interessen eines individuellen Autokäufers, der kein Fahrzeug mit nach EU-Vorgaben unzulässigen Abschalteinrichtung erwerben wolle. Die Mitgliedstaaten müssen daher vorsehen, dass der Käufer eines solchen Fahrzeugs gegen den Hersteller dieses Fahrzeugs einen Anspruch auf Schadensersatz habe.

Aus der Rechtsprechung des EU-Gerichts vom Juli 2022 ergibt sich allerdings, dass der Käufer nur einen Ersatzanspruch hat, wenn das Thermofenster tatsächlich den Motor lediglich vor Verschleiß schützen sollte, statt plötzliche Gefahren zu verhindern. Ob dies der Fall ist, muss das deutsche Gericht noch klären, ebenso die Modalitäten und die Frage der Bemessung eines Schadens. Dabei müsse auch dafür gesorgt werden, dass es „nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten“ komme, so die Luxemburger Richter.

Die Entscheidung wird spürbare Folgen für die zahlreiche ausstehende Gerichtsverfahren in Deutschland haben, in denen über konkrete Klagen von Autokäufern entschieden wird. Im Fall des Volkswagen-Konzerns, der den Skandal auslöste, hatten Verbraucherschützer und der Konzern Anfang 2020 einen Vergleich geschlossen, bei dem 260.000 Betroffene Angebote für Entschädigungssummen von 1350 bis 6257 Euro von dem Hersteller erhielten.

Schadenersatz bei unzulässiger Abgas-Technik: Kommt eine Klagewelle?

Doch viele Autofahrer hielten ihre Klagen aufrecht. Inzwischen ist Mercedes-Benz stärker in den Fokus gerückt, Verbraucherschützer haben eine Musterfeststellungsklage gegen den schwäbischen Autobauer eingereicht. Betroffen sind neben VW und Mercedes aber auch Autos von Audi, Toyota, Renault, Opel, Fiat, Jeep, BMW, Lancia, Skoda, Seat und Peugeot.

Die Gerichte auch in Deutschland sind an die Rechtsauslegung des EuGH gebunden. Allein beim Bundesgerichtshof sind aktuell über 1900 Verfahren zu Revisionen oder Nichtzulassungsbeschwerden anhängig. Der BGH hat eigens eine Verhandlung über die Klage eines VW-Käufers um mehrere Monate auf den 8. Mai verschoben, um den europäischen Richterspruch abzuwarten.

Das Gericht will nun „so bald als möglich“ höchstrichterliche Leitlinien festlegen. Auch andere deutsche Gerichte hatten das Urteil aus Luxemburg abgewartet. Auf den Diesel-Skandal spezialisierte Anwaltskanzleien erwarten bereits eine neue Klagewelle, allerdings sind dabei unterschiedliche Verjährungsfristen zu beachten.