Brüssel. Historischer Besuch des ukrainischen Präsidenten in Brüssel. Doch beim EU-Gipfel gibt es auch Kritik am Verlauf von Selenskyjs Reise.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bei einem Auftritt im EU-Parlament leidenschaftlich für die Aufnahme seines Landes in die Europäische Union geworben: „Das ist unser Europa, das sind unsere Regeln, das ist unsere Lebensweise, und für die Ukraine ist es ein Weg nach Hause, ein Weg nach Hause“, sagte Selenskyj in seiner Rede vor dem Parlament in Brüssel. „Wir haben eine gemeinsame europäische Geschichte“, betonte der Präsident. Die Vision einer EU-Mitgliedschaft habe die Ukraine ermutigt, stark zu bleiben.

Russland aber wolle mit seinem „totalen Krieg“ den europäischen Lebensstil zerstören. Der Kreml setze die „Vorherrschaft der Gewalt“ an die Stelle von Rechtstaatlichkeit, Schritt für Schritt zerstöre er den Wert des menschlichen Lebens in Russland und versuche, Fremdenhass zur Normalität in Europa zu machen. Europa müsse darauf mit einem kleine Nein antworten: „Egal, wer wir sind, wir kämpfen immer gegen diese Missachtung, diesen Mangel an Respekt.“

Selenskyj war von den Abgeordneten begeistert empfangen worden – mehrmals wurde er mit stehendem Applaus und Hochrufen gefeiert, zum Abschluss erklangen im Parlament die ukrainischen Nationalhymne und die Europa-Hymne. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola nannte den Besuch Selenskyjs einen „historischen Tag für Europa“ und versprach: „Die Zukunft Ihrer Nation ist in der Europäischen Union.“ Selenskyj bedankte sich in seiner Rede auch für die Unterstützung der Europäer im Kampf gegen Russland – für die Lieferung von Waffen und Munition, Brennstoffen und Energie und „all den Tausenden Dingen, die wir in diesem brutalen Krieg brauchen“.

Selenskyj reiste zusammen mit Macron zum EU-Gipfel

Nach seinem Auftritt nahm Selenskyj am EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs teil, der hinter verschlossenen Türen am Vormittag im streng abgeriegelten Brüsseler Ratsgebäude begann. Brüssel war nach London und Paris die dritte und letzte Station seiner überraschenden Reise in europäische Hauptstädte – es war das zweite Mal überhaupt seit dem russischen Überfall auf die Ukraine, dass der Präsident sein Land verlassen hat.

Der ukrainische Staatschef war von Paris aus gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron angereist. In Paris hatte er am Vorabend bei einem Abendessen mit Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz auch auf die Lieferung von Kampfjets gedrängt. Die militärische Ausrüstung müsse „so schnell wie möglich“ geliefert werden, sagte er. „Es geht um Waffen, die für den Frieden notwendig sind. Der Krieg, den Russland entfacht hat, muss gestoppt werden.“

Scholz versprach ihm Unterstützung solange wie nötig und erklärte erneut, „Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen.“ Macron ging rhetorisch weiter und sicherte „Unterstützung bis zum Sieg“ zu. Allerdings liegt Frankreich bei konkreten Hilfen, vor allem mit Waffenlieferungen, weit hinter Deutschland zurück. Scholz betonte am Rande des Gipfeltreffens, Deutschland sei unter den EU-Staaten das Land, das „am allermeisten Unterstützung leistet wenn es um Waffenlieferungen geht“.

Selenskyj-Besuch in Brüssel: Das ist der Hintergrund

Selenskyjs Besuch hat vor allem symbolischen Charakter: Fast ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sollte so die Zugehörigkeit der Ukraine zum demokratischen Europa unterstrichen werden – zu einer Europäischen Union, die der Ukraine geschlossen zur Seite steht und der Ukraine eine Beitrittsperspektive gibt. Kanzler Scholz sagte: „Die Ukraine gehört zur europäischen Familie.“ Dass Selenskyj angesichts einer in wenigen Wochen erwarteten russischen Großoffensive auf neue, zügige Waffenhilfe drängt, war nicht überraschend. Neue konkrete Zusagen hatte er aber wohl gar nicht erwartet. Bislang ist kein westliches Land bereit, verbindlich die Lieferung von Kampfjets anzukündigen – die Zurückhaltung wird allerdings in unterschiedlicher Form artikuliert, von Deutschlands klarem Nein bis hin zu Erklärungen etwa der britischen Regierung, die längerfristige Lieferung zu prüfen und die Ausbildung ukrainischer Piloten vorzubereiten.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei seiner Rede vor dem EU-Parlament.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei seiner Rede vor dem EU-Parlament. © AFP | KENZO TRIBOUILLARD

Die Ukraine braucht allerdings nicht nur Waffen: Selenskyj wollte auch bei den EU-Regierungschefs auch noch einmal um Zusagen für einen schnellen EU-Beitritt seines Landes werben. Auch hier liegen die Positionen auseinander: In der ukrainischen Regierung wurde zuletzt der Eindruck erweckt, die Ukraine könne innerhalb von zwei Jahren EU-Mitglied werden. Das gilt in Brüssel als ausgeschlossen. Unklar ist, ob zumindest die offiziellen Beitrittsverhandlungen noch in diesem Jahr beginnen, worauf die Regierung in Kiew drängt.

Ärger über Treffen von Selenskyj mit Scholz und Macron in Paris

Selenskyj hatte sich aber im Vorfeld des Gipfels selbst ein Bild machen können, wie schwierig die interne Abstimmung der EU-Institutionen und den 27 Mitgliedstaaten ist: Sein Besuch in Brüssel war vor allem auf starkes Betreiben von EU-Ratspräsident Charles Michel zustande gekommen, dem nun die Rolle des Gastgebers zufiel – obwohl Michel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nur eine Woche zuvor zu einem Gipfel mit Selenskyj in Kiew zusammengetroffen waren und dort schon die Fortsetzung der Hilfen für die Ukraine zugesichert hatten. Unter EU-Diplomaten hatte es deshalb Diskussion gegeben, was das Ziel des Brüsseler Treffens sein könne.

Für Unmut sorgte dann, dass der eigentlich unter strenger Geheimhaltung geplante Besuch Selenskyjs durch eine Indiskretion in der Spitze des EU-Parlaments bereits zu Wochenbeginn bekannt wurde. Aber auch das Sondertreffen Selenskyjs mit Macron und Scholz in Paris trübte für manchen Gipfelteilnehmer die Stimmung. Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni nannte die Einladung des ukrainischen Präsidenten nach Paris „unangebracht“. Die Stärke der EU sei Gemeinschaft und Einheit, innenpolitische Angelegenheiten dürften nicht auf Kosten der Sache gehen.

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