London/Berlin. Gut ein Jahr ist der Brexit nun vollzogen. Wie erwartet sorgt er für viel Chaos in Großbritannien – und die Probleme werden anhalten.

Für viele Briten war es ein Schock: Vor Tankstellen im gesamten Land bildeten sich lange Schlangen. Hunderte von ihnen mussten sogar schließen, weil der Sprit ganz ausgegangen war. Vereinzelt kam es zu Schlägereien zwischen genervten Autofahrern.

Tatsächlich hatten die erstaunlichen Ereignisse im Herbst viel mit dem Brexit zu tun: Seit dem 1. Januar 2021 ist das Vereinigte Königreich nicht mehr Teil des EU-Binnenmarkts und der Zollunion. Nach dem Brexit-Referendum der Briten 2016 haben geschätzt 20.000 Lkw-Fahrer aus EU-Staaten das Land verlassen, viele von ihnen während der Covid-19-Pandemie.

Bis zum Sommer 2021 waren rund 100.000 Stellen für Lkw-Fahrer unbesetzt. Wegen der strikten Einwanderungsbeschränkungen seit Jahresbeginn 2021 waren viele Spediteure nicht in der Lage, Fahrer anzuheuern. Daher kam es das ganze Jahr über zu Engpässen.

Dass viele der schon lange zuvor prognostizierten Brexit-Folgen in diesem Jahr erstmals zu beobachten waren, liegt auch daran, dass mit dem Jahreswechsel 2020/21 die Brexit-Übergangsfrist endete. In dieser Phase war vieles beim Alten geblieben. Formell hatte Großbritannien die EU ja bereits am 1. Februar 2020 verlassen.

Ökonom: “Der Brexit ist seinem Wesen nach ein langfristiges Problem“

Auch die Behörde für Budgetverantwortung des Finanzministeriums (OBR) geht mittlerweile davon aus, dass der Brexit die Produktivität im Land dermaßen stark verringern wird, dass das Bruttoinlandsprodukt auf Dauer um vier Prozent geringer ausfallen wird, als es ohne den EU-Austritt der Fall gewesen wäre.

„Der Brexit ist seinem Wesen nach ein langfristiges Problem“, sagte Jonathan Portes, Ökonom am King’s College in London, dem „Guardian“. „So wie es Jahrzehnte gedauert hat, bis Großbritannien die vollen Vorzüge seiner EU-Mitgliedschaft gesehen hat, werden wir noch lange nach meiner Pensionierung über die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexits sprechen.“

Brexit: Auch in Nordirland guckt England in die Röhre

Grund dafür ist nicht zuletzt der harte Brexit, den Premier Boris Johnson dem Land aufgezwungen hat. Denn unter seiner Führung hat Großbritannien auch den europäischen Binnenmarkt und die Zollunion verlassen. Mit einer Ausnahme: Nordirland. Um eine harte Grenze der britisch kontrollieren Region zur Republik Irland zu vermeiden, verblieb Nordirland gemäß Brexit-Abkommen im EU-Binnenmarkt für Waren. Der EU-Zollkodex blieb dort ebenfalls intakt.

Während in der Folge die Exporte aus England, Schottland und Wales in die Republik Irland 2021 stark einbrachen, stieg das Handelsvolumen Nordirlands mit dem Nachbarn im Süden rasant an. Die Barrieren, die durch den Brexit im Gegenzug beim Handel zwischen Nordirland und Großbritannien entstanden, scheinen dem nordirischen Wirtschaftsboom keinen großen Abbruch zu tun. Dieser Umstand sorgt in London für merkliches Unbehagen. Daher fordert London seit Monaten von der EU, die Bedingungen des Nordirland-Protokolls im Brexit-Abkommen neu zu verhandeln.

Großbritannien ächzt unter Brexit – Johnson feiert Lockdown-Party

Die Schwierigkeiten gehen auch an der britischen Öffentlichkeit nicht spurlos vorbei. So gaben in einer vor wenigen Tagen veröffentlichten Umfrage mehr als sechs von zehn Befragten an, dass der Brexit schlecht laufe – oder zumindest schlechter als erwartet.

Dazu dürfte auch das stark lädierte öffentliche Ansehen von Boris Johnson beigetragen haben. Johnson hangelt sich seit Wochen von einem schweren Skandal zum nächsten, über den konventionellere Regierungschefs wohl schon längst gestolpert wären.

Besonders schwer wiegen die Enthüllungen, wonach es in Johnsons Amtssitz in der Downing Street und in einigen angrenzenden Ministerien 2020 während mehrerer Lockdowns immer wieder regelwidrige Zusammenkünfte und sogar Partys gab.

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Auch Deutschland und die EU bekommen den Brexit zu spüren

Doch nicht nur die britische, auch die deutsche Wirtschaft leidet unter dem Brexit. So fühlen sich viele deutsche Unternehmen im Vereinigten Königreich diskriminiert. 43 Prozent klagten, dass es Handelsbarrieren gebe oder einheimische Mitbewerber bevorzugt würden. Dies ergab eine Sonderauswertung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) zu einer Umfrage unter 3200 im Ausland tätigen deutschen Firmen.

War das Vereinigte Königreich 2016 noch der drittwichtigste deutsche Exportmarkt, ist es mittlerweile auf den achten Platz abgesackt. Ähnliches gilt für den Handel innerhalb der EU. Nach Berechnungen der EU-Kommission drückt der Brexit das Wirtschaftswachstum in der Gemeinschaft bis Ende 2022 um 0,5 Prozent. Im Vereinigten Königreich beträgt das Minus demnach 2,25 Prozent.

Hinzu kommen neue Sorgen. Ab 1. Januar 2022 will Großbritannien Einfuhren aus der EU genau kontrollieren. „Das wird im Endeffekt auch dazu führen, dass das Vereinigte Königreich weiter abgekoppelt wird von der kontinentaleuropäischen Wirtschaft“, sagte Ulrich Hoppe, der Chef der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer (AHK) in London.