Brüssel. Nach dem EU-Videogipfel herrscht Ratlosigkeit: Was tun im Streit mit Ungarn und Polen über Geld und Rechtsstaat? Und auch bei der zweiten EU-Großbaustelle Brexit heißt es: Jetzt zählt's.

Was für eine Woche für die Europäische Union. Ungarn und Polen blockieren kurz vor dem Jahresende das mühsam ausgehandelte Haushaltspaket samt Corona-Hilfen und spalten die Gemeinschaft.

Nach einem ergebnislosen Videogipfel heißt es nun in Brüssel: Frau Merkel, übernehmen Sie! Dieselbe Zuspitzung beim Brexit, wo kurz vor knapp immer noch kein Handelspakt mit Großbritannien steht und nun auch noch ein Corona-Fall Sand ins Getriebe streut. Die Zeit läuft aus. Und so dürften die nächsten Tage ebenso aufreibend werden wie die vergangenen.

Die Haushaltskrise hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die übrigen EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstagabend plötzlich auf der Tagesordnung ihrer Videoschalte, bei der es eigentlich um Corona gehen sollte. Da aber niemand ein Rezept zur Lösung des Streits mit Ungarn und Polen hatte, band EU-Ratschef Charles Michel die Debatte nach nur einer Viertelstunde ab. Nun hängt es an Merkel, weil Deutschland derzeit den Vorsitz der EU-Länder führt. Doch die Optionen sind begrenzt.

Ungarn und Polen blockieren den entscheidenden Haushaltsbeschluss - und damit das ganze 1,8 Billionen Euro schwere Finanzpaket - aus Protest gegen eine neue Rechtsstaatsklausel. Demnach können EU-Gelder gekürzt werden, wenn die Empfängerländer bestimmte Standards verletzen, etwa die Unabhängigkeit der Justiz, und dies Auswirkungen auf die ordnungsgemäße Vergabe von EU-Mitteln haben könnte. Die beiden Regierungen wollen die Klausel nicht, fast alle anderen EU-Staaten und das Europaparlament erklären sie hingegen für unverzichtbar.

Nötig sei eine Einigung, sagte EU-Ratschef Michel, und hinter den Kulissen ist vage von "Verhandlungen" die Rede, die Merkel nun organisieren soll. In welchem Format und zu welchem genauen Zweck, das war auch am Freitag nicht klar. Zeit könnte helfen, die beiden Staaten kompromissbereit zu stimmen, hieß es aus EU-Kreisen. Vielleicht auch Geldnot, denn beide bekämen aus dem Haushalt und dem 750-Milliarden-Plan gegen Corona Milliardensummen. Womöglich könnte auch eine Expertise des Europäischen Gerichtshofs zur Rechtsstaatsklausel angefordert werden, wurde spekuliert.

Und dann ist da noch die Option, die das Forschungsinstitut ZEW Mannheim die Variante "EU minus zwei" nennt. Die vor allem in den südeuropäischen Krisenstaaten dringend erwarteten Corona-Hilfen könnten ohne die beiden Nein-Sager mit einem internationalen Vertrag der 25 übrigen Staaten auf den Weg gebracht werden. Auch bei der Schengenzone und beim Euro machten ja nicht alle EU-Staaten mit, erinnert ZEW-Experte Friedrich Heinemann.

Doch wäre ein solches Verfahren nicht nur langwierig - es wäre eine Kampfansage an Ungarn und Polen, die damit dauerhaft als ausgebremste Quertreiber im Beiboot des großen EU-Tankers schaukeln würden. Der Bruch würde zementiert. Deshalb will offiziell darüber vorerst niemand reden. Ratschef Michel beschwört lieber ein Wunder: "Die Magie der Europäischen Union liegt darin, dass es ihr gelingt, Lösungen zu finden, selbst wenn man davon ausgeht, dass dies nicht möglich ist.". Ein Diplomat übersetzte das so: "Den Ausweg kennt niemand." Die Lage sei ernst.

Ungarns Regierungschef Viktor Orban meldete sich dagegen am Freitag mit einer überraschend positiven Prognose: "Die Verhandlungen müssen fortgesetzt werden, am Ende werden wir uns einigen." Was er genau erreichen will, sagte er jedoch nicht. Stattdessen legte er mit Verbalattacken gegen den US-Investor George Soros nach und sprach von angeblich von Soros korrumpierten Politikern, "die Ungarn und Polen attackieren und erpressen wollen". Kompromisssignale sehen wohl anders aus.

Ein wirklich zäh errungenes und als historisch gefeiertes Paket - der siebenjährige EU-Haushaltsrahmen und die Corona-Hilfen - droht also, sich wieder aufzulösen. Das andere Paket - der Brexit-Handelsvertrag der EU mit Großbritannien - ist immer noch nicht geschnürt. Beiden gemeinsam ist das "natürliche Fristende", wie es EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Freitag nannte: Am 1. Januar braucht die EU eine Finanzregelung und am 1. Januar ist Großbritannien raus aus der Zollunion und dem EU-Binnenmarkt.

Da beides aber aufwendig ratifiziert werden muss, ist die tatsächliche Frist aber nahezu abgelaufen. Der Vertragstext zum Handelspakt müsse in den nächsten Tagen vorliegen, sonst reiche einfach die Zeit nicht mehr, sagen EU-Diplomaten und Europaabgeordnete. Schon jetzt wird zur Ratifizierung eine Sondersitzung des EU-Parlaments am 28. Dezember erwogen. Aber die Unterhändler sind immer noch nicht fertig. Und statt im Konferenzsaal sitzen sie sich nun - nach einem positiven Corona-Test im EU-Team - wieder vor Bildschirmen gegenüber.

Von der Leyen meldete am Freitag immerhin: "Nach schwierigen Wochen mit sehr, sehr langsamen Fortschritten sehen wir jetzt mehr Fortschritt, mehr Bewegung bei wichtigen Punkten, das ist gut." Aber sie sagte auch: "Es bleiben noch etliche Meter bis zur Ziellinie." Ob die Zeit reicht? Es wachse die Sorge, dass die Verhandlungen nicht schnell genug vorankämen, sagte ein EU-Diplomat. Hoffnung bleibe aber, sofern London "die nötigen politischen Entscheidungen" treffe.

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