Die neue EU-Asylstatistik zeigt besonders eines: Europa versagt bei der Flüchtlingspolitik auch weiterhin, analysiert Miguel Sanches.

Immer wieder versuchen Migranten, von der türkischen Küste oder aus anderen Staaten am Mittelmeer zum griechischen Festland oder nach Italien zu gelangen. Viele können aus Seenot gerettet werden. Doch zu Weihnachten sind erneut Flüchtlinge ums Leben gekommen.

Das ist die Realität, seit Jahren schon. Zu den christlichen Festtagen fällt ein Widerspruch einem nun besonders auf: Das Evangelium lehrt Nächstenliebe – die Praxis lautet abschotten, abschieben, verdrängen, wegschauen.

Es ist wahr, Europa hat andere Sorgen. Höchste Priorität hatte der Kampf gegen die Pandemie, der Infektionsschutz. Zuletzt geriet auch zunehmend die Ukraine-Krise in den Vordergrund, genauer gesagt eine diffuse, aber begründete Kriegsangst. Nun rufen uns die Meldungen aus der Ägäis eine seit Jahren, spätestens seit 2015 unerledigte Aufgabe in Erinnerung, die Flüchtlingskrise.

Asylpolitik in der EU ist nur noch eine Frontex-Debatte

Miguel Sanchez, Politik-Redakteur der Funke Mediengruppe Zentralredaktion.
Miguel Sanchez, Politik-Redakteur der Funke Mediengruppe Zentralredaktion. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Es gibt darauf eine europäische und eine neudeutsche Antwort. Die europäische Antwort läuft auf einen besseren Grenzschutz hinaus. Es ist eine Frontex-Debatte. Gesucht wird die Ideallinie der Abschottung. Die staatliche „Lösung“ kann hartherzig sein. Wären da nicht die privaten Hilfsorganisationen wie Sea-Watch, dann wären womöglich mehr Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken.

Die neudeutsche Antwort kann man im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP nachlesen. Von einem Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik ist die Rede – davon, dass die Ampel-Parteien einen Schlussstrich unter die restriktive Asylpolitik ziehen wollen. Es sind zwei gegensätzliche Modelle, die in Konkurrenz zueinander stehen.

Legt man die EU-Asylstatistik daneben, wird deutlich, dass sich die Migranten politisch überaus rational verhalten. Sie gehen mehrheitlich dorthin, wo sie willkommen sind und versorgt werden; wo sie Sicherheit erfahren, im engeren wie im materiellen Sinne. Sie machen einen Bogen um jene Staaten, die sie um jeden Preis loswerden wollen. In Zahlen: In Deutschland wurden in den ersten neun Monaten 100.000 Asylanträge gestellt, in Ungarn am anderen Ende der Skala: 30. Haltung prägt Handlung.

Die meisten Flüchtlinge wollen bloß ein menschenwürdiges Leben

Wie realitätsfern Abschottung ist, kann man im Vereinigten Königreich beobachten, das nicht zur EU gehört und schwerer zu erreichen ist als ein Land der Mitte wie Deutschland. Trotzdem, auch trotz unwürdiger Behandlungen von Asylbewerbern, trotz Aktionen gegen Flüchtlingsboote im Ärmelkanal schaffen es Zehntausende, illegal nach Großbritannien auszuwandern. Für ihren Traum von einer besseren Zukunft riskieren die Menschen aus dem Iran, Irak, Sudan, Syrien, Afghanistan oder Somalia ihr Leben mitunter zweimal, erst am Mittelmeer, dann am Ärmelkanal.

In Europa werden Länder wie Griechenland, Italien und zunehmend auch Spanien überlastet. Die Griechen sind schon mehr als überlastet: total überfordert. Diese Staaten brauchen nicht nur eine bessere europäische Grenzpolizei – zum Beispiel ein entschlossenes Vorgehen gegen Schleuser –, sondern gewissermaßen politisch angewandte Nächstenliebe, anders gesagt: einen Schlüssel zur Verteilung der Geflüchteten.

Dabei wollen die meisten Menschen nicht ihre Dörfer, ihre Familien verlassen, um auszuwandern. Sie würden am liebsten ein menschenwürdiges Leben in ihrer Heimat führen. Wenn man an diesen Feiertagen die christliche Bergpredigt in praktische Politik übersetzt, dann wäre eine Konsequenz zwingend: den Leuten dort zu helfen, wo sie leben, eine Art Marshallplan für den Süden.

Solange die Bekämpfung der Fluchtursachen nicht ernsthaft angegangen wird, so lange werden die Migranten nach Europa kommen, so lange werden sich in der Ägäis menschliche Tragödien abspielen.