Berlin. Ein neues EU-Klimaziel, weniger Emissionen durch Corona – all das wird nicht reichen, um das Klima zu retten, sagt Luisa Neubauer.

Es ist eine Zahl, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre: Um 55 Prozent wollen die EU-Staats- und Regierungschefs bis 2030 den Ausstoß von Treibhausgasen in der Union verringern. Die Spitzenpolitik zeigt sich zufrieden: „Im Kampf gegen den Klimawandel ist Europa der Anführer“, bewertet Ratspräsident Charles Michel die Einigung vom Freitagmorgen.

Luisa Neubauer, das wohl bekannteste deutsche Gesicht der Klimaschutzbewegung Fridays for Future (FFF), ist weniger beeindruckt: „Dass man -55% lange für unrealistisch gehalten hat, ändert leider nichts an der Tatsache, dass man in einer eskalierenden Klimakrise ein #Klimaziel beschlossen hat, das nicht mit 1,5° vereinbar ist“, twitterte sie. Sie und ihre Mitstreiter fordern mehr: Bis 2035 müsse Europa klimaneutral sein – und die Emissionen bis 2030 schon um 80 Prozent reduziert. Nur so ließe sich das 1,5-Grad-Ziel erreichen.

Klima: Laut Pariser Abkommen sollen es maximal zwei Grad Erwärmung werden

Nicht mehr als 1,5 Grad Erwärmung: Die Zahl stammt aus dem Pariser Klimaabkommen, dessen Verabschiedung am Samstag fünf Jahre her ist. 2015 einigten sich fast 200 Unterzeichnerstaaten darauf, die weltweite Temperaturerhöhung im Vergleich zum vorindustriellen Niveau möglichst auf 1,5 Grad, in jedem Fall auf deutlich unter 2 Grad zu begrenzen.

Wenige Tage vor dem Jubiläum des Vertrags ist Neubauer in Berlin. Mehrere Interviews stehen an diesem Tag auf dem Plan, für die Uni muss sie auch noch etwas erledigen. „70 Prozent Aktivismus, in irgendeiner Form, zehn Prozent Podcast, zehn Prozent Buch, zehn Prozent Studium“, so teile sich ihre Zeit auf. Kein Privatleben? Neubauer überlegt kurz. „Das sind dann 15 weitere Prozent, die schlag’ ich oben drauf.“

So geht das seit zwei Jahren, seit Neubauer mit ein paar anderen in Deutschland die Jugendbewegung Fridays for Future aufgebaut hat, inspiriert und unterstützt von der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg. Neubauer selbst, 24 Jahre alt, ist längst bundesweit bekannt, hat ein Buch geschrieben und macht einen Podcast für Spotify, sitzt in Talkshows mit Ministern und Ministerinnen, bekommt Termine im Kanzleramt – wo sie und Mitstreiterinnen Angela Merkel persönlich erzählen können, wie zügig die Welt gerade an den Zielen des Pariser Abkommens vorbeizieht.

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„Ende des Jahrhunderts wird Bangladesch in großen Teilen nicht mehr wirklich bewohnbar sein“

Als der Vertrag von Paris vereinbart wurde, hatte Neubauer gerade ihr Geografie-Studium in Göttingen begonnen. Was sie in ihren Kursen über die Klimakrise erfuhr, schockierte sie. „Ganz nebenbei wurde in meinen Vorlesungen erklärt, dass man damit rechnet, dass Ende des Jahrhunderts Bangladesch in großen Teilen nicht mehr wirklich bewohnbar sei – und das nimmt man anscheinend so hin“, erinnert sie sich bei einem Treffen in Berlin. Doch das Abkommen machte Hoffnung: „Es war für mich damals ein Riesengeschenk zu wissen, okay, anscheinend kümmern die sich und nehmen die Sache in die Hand.“

Doch die nächsten Jahre zeigen: So richtig engagiert kümmert sich kaum jemand. Von den ambitionierten Zielen des Vertrags kommt in der Realität wenig an. Als Greta Thunberg 2018 in Schweden ihren Schulstreik beginnt, wird Neubauer deshalb, gemeinsam mit anderen, in Deutschland aktiv.

Ausgestattet mit Erfahrungen aus NGOs, in denen sie sich schon als Jugendliche engagiert, und einer erfolgreichen Kampagne gegen Investments in fossile Energieträger an der Universität Göttingen, baut sie FFF in Deutschland mit auf. Mit großem Erfolg: Zu ihrem Höhepunkt bringt die Bewegung in der Bundesrepublik 1,4 Millionen Menschen auf die Straßen, setzt das Thema Klima unverrückbar auf die Tagesordnungen der Politik.

„Super Abkommen, und dann grandios dran vorbeigearbeitet“: Klimaaktivistin Luisa Neubauer in Berlin. Foto: Reto Klar / Funke Foto Services
„Super Abkommen, und dann grandios dran vorbeigearbeitet“: Klimaaktivistin Luisa Neubauer in Berlin. Foto: Reto Klar / Funke Foto Services © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Doch FFF kann auch deshalb so viele junge Menschen mobilisieren, weil die Lage des Weltklimas in ebendiesen Jahren immer schlechter wird. Ein Temperaturrekord jagt den nächsten, im globalen Schnitt war 2020 schon 1,2 Grad Celsius wärmer als das vorindustrielle Vergleichsniveau. Und zwischen dem, wozu sich die Weltgemeinschaft 2015 verpflichtet hat, und der Wirklichkeit klafft eine gigantische Lücke, das zeigte zuletzt ein Bericht der UN-Umweltorganisation Unep. Der Planet ist auf Kurs für mehr als drei Grad Erwärmung. „Es gibt keinen Plan, das zu ändern, es gibt kein Konzept wie es gemacht werden könnte“, sagt Neubauer. „Super Abkommen, und dann grandios dran vorbeigearbeitet.“

Schon vor Corona wurden die Demonstrationen kleiner

Auch die Delle in den Emissionen durch die Pandemie ändert an diesem Resümee wenig. Für FFF aber bedeutet Corona, dass die wichtigste Aktionsform der Bewegung ausfällt: Massenstreiks inmitten einer Pandemie sind keine Option für eine Gruppe, die sich an der Wissenschaft orientiert. Die coronakonformen Aktionen, auf die die Bewegung seitdem setzt, erzielen nicht denselben Effekt.

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Und schon vor Corona war der Gegenwind stärker geworden. Nach dem September 2019, als Millionen weltweit auf den Straßen waren, verabschiedete die Bundesregierung das Klimapaket, das die Aktivistinnen und Aktivisten als Schlag ins Gesicht empfanden.

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Klimaaktivisten: Kritiker halten FFF für wenig kompromissbereit

Danach wandten sich manche enttäuscht ab, die Teilnehmerzahlen auf den Demos wurden kleiner, und die Gegenstimmen lauter: Kritiker, aus der Politik, aber zum Teil auch ehemalige Mitglieder der Bewegung, werfen FFF vor, elitär zu sein, nicht genug an Menschen zu denken, die nicht die Wahl haben, sich für klimafreundlicheres Verhalten zu entscheiden. Andere verdächtigen Neubauer und FFF, ihrem Beharren auf das 1,5-Grad-Ziel demokratische Strukturen unterzuordnen.

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Kürzlich kritisierte zum Beispiel CDU-Vorstandskandidat Friedrich Merz die Bewegung als zu wenig kompromissbereit. Als Neubauer auf Twitter antwortet, Klimaaktivisten seien keine Lobbyisten und hätten „kein Angebot zum ‚verhandeln‘“ dabei, nannte FDP-Politikerin Linda Teuteberg das „denkfaule Demokratie- und Parlamentsverachtung“. „Ich dachte, Frau Teuteberg, das ist doch nicht nötig!“, erinnert sich Neubauer. Sie fragte nach, warum Teuteberg das denkt. Eine Antwort kam nicht.

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Klima: Neubauer sieht Gefahr für die Demokratie

Auch Neubauer sieht Gefahren für die Demokratie in der aktuellen Diskussion über das Klima, aber nicht, weil FFF auf seine Ziele pocht. „Die demokratischen Institutionen, die uns schützen sollen, die unsere Interessen vertreten sollen, die langfristig denken sollen, werden dem Problem nicht gerecht. Das beunruhigt mich zutiefst“, sagt sie. Auch das Pariser Abkommen sei schließlich demokratisch verabschiedet worden. „So viele Ziele werden vereinbart und dann genau die Politik gemacht, die verhindert, dass man sie einhalten kann.“ Das untergrabe das Vertrauen in der Politik.

Auch bei anderen in der Bewegung ist die Zuversicht, dass Parteien und Politiker eine Antwort auf Klimakrise finden werden, offenbar gering. Eine Befragung der Hochschule Biberach von Mitgliedern der Bewegung ergab, dass weniger als ein Fünftel der Teilnehmenden Vertrauen in politische Parteien hat.

Einige versuchen es jetzt trotzdem im Parlament, mehrere Aktivisten haben angekündigt, 2021 für den Bundestag zu kandidieren. Auch Neubauer wurde gefragt, sie hat abgelehnt. Ihr Einfluss sei außerhalb des Parlaments. Fridays for Future will weitermachen, irgendwann, wenn es geht, auch wieder auf der Straße.