Berlin. Ab Montag wird Nord Stream 1 gewartet. Der Hahn könnte zu bleiben. Deutschland muss sich auf einen Kraftakt einstellen. Ein Kommentar.

Deutschland läuft auf einen Testfall zu, den sich niemand gewünscht hat. Ab diesem Montag wird die Erdgas-Pipeline Nord Stream 1 zehn Tage lang gewartet. In dieser Zeit fließt kein Gas von Russland nach Deutschland. Doch es kann durchaus sein, dass Moskau den Hahn für immer zudreht – als Vergeltung für die harschen Sanktionen des Westens und die Waffenlieferungen an die Ukraine. Käme es so, würden die Gaspreise für Verbraucher und Unternehmen massiv ansteigen.

Vor diesem Hintergrund malen Vertreter der Bundesregierung düstere Szenarien, die dem einen oder anderen übertrieben erscheinen mögen. Wirtschaftsminister Habeck warnt vor einem "politischen Albtraum-Szenario" und einer "Zerreißprobe" für die Gesellschaft. Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, mahnt, dass Familien pro Jahr 2000 bis 3000 Euro zusätzlich für Gas hinblättern könnten.

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Gas- und Energiesparen: Nicht nur Politik ist gefragt

Habeck, Müller und andere wählen drastische Worte, weil sie die Gesellschaft aufrütteln wollen. Dieser Ansatz ist richtig. Die Energiekrise wird ernst. Sie lässt sich aber stemmen, wenn alle an einem Strang ziehen. Das Land braucht einen gewaltigen Kraftakt – und Solidarität mit den Bedürftigen. Wichtig dabei: Es gibt nicht die eine Lösung per Knopfdruck.

Die Politik hat bereits konkrete Signale gesetzt. Der Grünenpolitiker Habeck ist über seinen Schatten gesprungen und antichambriert bei den Scheichs in Nahost für zusätzliche Gaslieferungen. Die Bundesregierung, die als Bannerträgerin der ökologischen Transformation angetreten ist, reaktiviert Kohlekraftwerke. Diese sollen Strom erzeugen, damit die Gaskraftwerke zusätzliche Ressourcen für die Auffüllung der Gasspeicher haben.

Michael Backfisch, Politik-Korrespondent.
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent. © Reto Klar | Reto Klar

Hier wurde bereits ein beträchtlicher Weg zurückgelegt. Die Gasspeicher, die vor wenigen Wochen bis auf rund 30 Prozent abgebrannt waren, haben wieder einen Füllstand von rund 67 Prozent. Wenn es gelingt, den Pegel auf 100 Prozent hochzutreiben, könnte die Gasversorgung für drei Monate reichen. Im besten Fall könnte das Land über einen milden Winter kommen.

Robert Habecks Appelle sind berechtigt

Darüber hinaus prüfen Landtage und Landesregierungen, Räumlichkeiten im Winter weniger stark zu beheizen und die Klimaanlagen im Sommer herunterzudrehen. Behörden wollen zudem den Warmwasserverbrauch einschränken. Gut so! Beim großen Thema Energiesparen ist jedoch nicht nur die Politik gefragt. Die Firmen müssen ebenso beisteuern wie die Bürgerinnen und Bürger.

Wirtschaftsminister Habeck wird derzeit von einigen als Lobbyist des Verzichts belächelt. Doch seine Appelle sind berechtigt: Ein Grad weniger Heizung im Winter kann fünf Prozent geringere Energiekosten bringen, bei zwei Grad wären es zehn Prozent. Das ist nicht nichts! Eine Neujustierung des Gas-Heizsystems im Sommer könnte noch einmal 15 Prozent bringen. Dabei wäre zu überlegen, ob Bürger, die besonders viel einsparen, einen Extra-Bonus vom Fiskus bekommen.

Es versteht sich von selbst, dass ein Sozialstaat wie Deutschland bei nach oben schießenden Heizkosten als Korrektiv auftritt. Geringverdiener und Menschen in Not sollen nicht in ihren Wohnungen frieren. Sie müssen Ausgleichszahlungen erhalten.

Wenn die Gesellschaft in der Krise zusammenhält, beweist sie in mehrfacher Hinsicht Stärke. Sie macht Wladimir Putin klar, dass sie einen brutalen Angriffskrieg in Europa nicht duldet. Und sie zeigt mentale und zivilisatorische Kraft. Es wäre die richtige Antwort für den Kremlchef, der den Westen für schwach hält.

Dieser Text erschien zuerst auf waz.de

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt