Berlin . Die Ukrainekrieg ist ein russisches Fiasko. Nun hat Wladimir Putin die Sündenböcke gefunden: Berichte über Säuberungen im Geheimdienst.

Der Ukraine-Krieg läuft schlecht für Russland. Die Suche nach Sündenböcken war eine Frage der Zeit. Präsident Wladimir Putin scheint sie längst gefunden zu haben. Beim Inlandsgeheimdienst FSB.

Das ist für einen Kenner der Welt der Geheimdienste wie Gerhard Conrad nicht ohne Ironie. "Der FSB ist Putins "Liebling", sein zentraler Machtapparat", sagt der ehemalige Direktor des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Brüsseler "Intelligence Analysis Center" unserer Redaktion.

"Informationspipeline" des Westens abdichten

Einige Agenten kamen vor Wochen in Hausarrest. Im Nachhinein betrachtet: wie in Untersuchungshaft. Offenbar wurden nun in einem zweiten Schritt 150 Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes in einer Nacht- und Nebelaktion versetzt, abgesetzt, verhaftet. Das berichtet die altehrwürdige Londoner "Times".

Darunter soll auch FSB-Chef Sergei Beseda sein. Offiziell werde gegen den 68-Jährigen wegen Unterschlagung ermittelt. Aber es werde davon ausgegangen, dass der Kremlchef ihn für undichte Stellen verantwortlich mache.

Es gibt zwei Erklärungsansätze, die sich nicht ausschließen. Zum einen könnte der Geheimdienst für ein "falsches Lagebild" und damit für das Fiasko in der Ukraine abgestraft werden, zum anderen für Indiskretionen. Verrat? Das wäre gravierender. Pure Spekulation, winkt Conrad ab. ,„Das wäre ein bestgehütetes Geheimnis."

Putin wittert Verrat

Fakt ist: Kurz vor Kriegsausbruch veröffentlichte das britische Verteidigungsministerium Karten, die den Weg der russischen Panzerkolonnen aufzeigten. Es scheint auch so zu sein, dass die Ukrainer nicht nur von Schlachtplänen, sondern auch von konkreten Mordanschlägen auf ihren Präsident Wolodymir Selenskyi Wind bekommen haben und zu verhindern wussten. Seit Wochen imponieren die Geheimdienste der USA mit Insiderwissen aus dem Kreml.

Die "Times" schreibt denn auch, der verzweifelte Putin jage Verräter. Die Untersuchung werden vom militärischen Spionageabwehrdienst geleitet. Gerade mit Blick auf die erwartete neue Ost-Offensive versuche Putin, "die Informationspipeline des Westens zu blockieren."

Ex-BND-Agent Gerhard Conrad hält Gerüchte über Säuberungen beim Geheimdienst FSB für plausibel. Das Ukraine-Fiiasko sei unverzeihlich.
Ex-BND-Agent Gerhard Conrad hält Gerüchte über Säuberungen beim Geheimdienst FSB für plausibel. Das Ukraine-Fiiasko sei unverzeihlich.

Selbst, wenn die Motivationsforschung zu spektakulär, zu thrillerhaft anmutet, so bleibt doch eines unbestritten: Der russische Misserfolg, international unübersehbar – und für Putin Grund genug, um durchzugreifen. "Die Pleite von bald acht Wochen Krieg ohne rasche politisch umsetzbare Erfolge, dafür mit erheblichen eigenen militärischen, wirtschaftlichen und außenpolitischen Verlusten das ist unverzeihlich“, meint Conrad. Grundsätzlich hält er die Berichte über Säuberungen daher für "plausibel und stimmig". Conrad erinnert, "der ursprüngliche Ansatz dieser Spezialoperation – die ist nicht zufällig so genannt worden – ist gescheitert: ein schneller „Enthauptungsschlag“.

Geheimdienste: Geschönte Lagebilder?

Der FSB ist ein Inlandsgeheimdienst. Die Abteilung 5 ist für die Ukraine zuständig. Putin spricht dem Nachbarland die Souveränitätsrechte ab und betrachtet es als Teil von Russland. Also: Inland. Es sieht nicht danach aus, als seien umfassende Informationen für die Ukraine-Operation ideal zusammengeführt worden. "Es sieht eher danach aus, als sei sie im kleinen Kreis und mit einem limitierten Lagebild geplant worden, und dass der FSB-Apparat nur mit einzelnen Aufträgen bedacht wurde, deren Hintergrund ihm gar nicht so klar war.", so Conrad.

Darauf deutete im März schon der Brandbrief eines mutmaßlichen Insiders hin, für Conrad ein vermutlich authentischer „Verzweiflungsruf“ aus den Reihen des FSB. Der angebliche Agent zeichnete in einer Analyse ein schonungsloses Bild vom planlosen Vorgehen. Weil selbst Spezialisten nicht gewusst hätten, dass wirklich ein Einmarsch bevorstand, habe es keine Pläne gegeben. Analysten hätten für hypothetische Planspiele geliefert, was die Politik hören wollte. "Aber dann stellt sich heraus, dass die Hypothese Realität geworden ist, und die Analyse, die wir dazu durchgeführt haben, ist totaler Müll", heißt es in dem Bericht. "Wir sitzen bis zum Hals in der Scheiße."

Fast zur gleichen Zeit twitterte der russische Investigativjournalist Andrei Soldatov, Putin habe bei einem Sicherheitstreffen den FSB "attackiert", Beseda und sein Stellvertreter stünden unter Hausarrest. Der Times sagte er, es könne sein, dass der FSB realistische Kenntnisse über die Lage in der Ukraine hatte – die Frage sei nur, was davon weitergegeben worden sei. "Das Problem liegt darin, dass es für die Verantwortlichen oft riskant ist, Putin Dinge mitzuteilen, die er nicht hören will".

Erst rollen die Köpfe, dann der Neustart

Der ukrainische Geheimdienst wollte überdies erfahren haben, dass Putin auch acht hochrangige Militärs gefeuert habe. Oleksij Danilow, Chef des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrats, sagte, "so wie ich das sehe, sind sie verzweifelt."

Inzwischen hat sich viel getan. Die russischen Truppen traten den Rückzug aus dem Großraum Kiew an und formieren sich im Osten und Süden neu. Putin beauftragte einen neuen Kommandeur mit einer Ost-Offensive - diesmal mit besseren Plänen und unter größerer Geheimhaltung. Was noch zu beweisen wäre.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de