Mainz. Gerhard Trabert kandidierte für das Amt des Bundespräsidenten. In seinem Alltag als Arzt versorgt er Obdachlose. Eine Nahaufnahme.

Eddie sitzt schon vor dem Haus und wartet, als das Arztmobil kommt. Wie es ihm gehe, will Schwester Angelika zur Begrüßung wissen. Eddie zuckt mit den Schultern, legt den Kopf schief. „Bisschen gut, bisschen scheiße, Rest normal“, sagt er.

Eddie hat einen grauen Bart, eine graue Mütze und seinen 60. Geburtstag hinter sich. Und bis vor kurzem war sein Schlafplatz in einem Zelt zwischen ein paar Büschen in Mainz. Jetzt ist er in einer Unterkunft etwas außerhalb der Stadt, wo ihn das Arztmobil an diesem Tag besucht. Sozialmediziner Gerhard Trabert und Pflegerin Angelika Ullmann-Schüler, die hier alle Schwester Angelika nennen, sind an diesem Morgen gekommen, um nach ihm und ein paar anderen in der Unterkunft zu sehen.

Trabert ist Sozialpädagoge, Arzt und ehemaliger Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten. Das Arztmobil ist seine rollende Praxis. Seit Jahrzehnten bringt er damit medizinische Behandlung auf die Straße und zu den Menschen, die dort leben.

Auch zu Eddie. Ihn behandelt er an diesem Tag wegen seines Rückens, der kaputt ist von der Arbeit. „Baustelle“, sagt Eddie zur Erklärung und gestikuliert mit den Händen in Richtung seiner Lendenwirbelsäule. Von Trabert bekommt er Ibuprofen gegen die Schmerzen, die Ermahnung, vor der Tablette etwas zu essen, und noch ein Medikament gegen den Husten, der ihn plagt.

Auf minus fünf Grad war die Temperatur in der Nacht gefallen, und Trabert ist froh, dass Eddie nicht mehr im Zelt schläft. Doch Eddie ist nicht unsicher. „Das Zelt ist gut“, sagt Eddie. „Aber das ist Zelt kalt“, sagt Trabert. „Ich habe Angst um dich.“

Wer auf der Straße lebt, hat dort häufig ein funktionierendes soziales Netz

Es habe viel Arbeit gekostet, erzählt der Arzt, seinen Patienten zu überzeugen, dass er zumindest in den kalten Tagen Zuflucht in der Unterkunft sucht. Das ehemalige Kasernengelände ist weit weg von der Innenstadt, von allen, die Eddie kennt. „Wenn Menschen auf der Straße leben, haben sie häufig ein funktionierendes soziales Netzwerk“, erklärt Trabert. Eine feste Unterkunft bedeute oft auch, das aufzugeben, und erst einmal wieder allein dazustehen.

Seit mehr als 20 Jahren fährt der Mediziner seine Tour, immer dienstags und donnerstags. Auf engem Raum beherbergt der Transporter eine Arztpraxis im Miniaturformat: Einen Behandlungsstuhl für die Patientinnen und Patienten, eine Liege, entlang der Seitenwänden weiße Schränke. In den Schubladen sind Vitamine, Antibiotika, Coronatests, Spritzen, Schmerzmittel und Herzmedikamente, Kondome und Tampons.

Aber auch frische Unterwäsche, Thermoleggins, Mützen, Isomatten und Schlafsäcke hat das Arztmobil dabei.

Gerhard Trabert in der Innenstadt von Mainz.
Gerhard Trabert in der Innenstadt von Mainz. © Andreas Arnold | Andreas Arnold

Das Leben auf der Straße ist gefährlich, vor allem für Frauen

Zwischen den Stopps – in Teestuben, in Unterkünften, an Plätzen, wo Menschen unter freiem Himmel schlafen – kann Trabert viel erzählen über das, was seine Patienten erleben. Über die Gewalt, der obdachlose Menschen immer wieder ausgesetzt sind, und wie gefährlich das Leben auf der Straße gerade für Frauen ist.

Über die Lücken im psychologischen Hilfesystem, und wie viele, die durch diese Lücken durchfallen, auf der Straße landen. Über die Gleichgültigkeit, die seinen Patientinnen und Patienten, aber auch armen Menschen insgesamt von vielen Stellen entgegenschlägt. Viele Menschen, denen es besser geht, würden sich verschließen, Armut tabuisieren, sagt Trabert. „Weil sie wissen, dass diese Abwärtsspirale nicht weit entfernt von der eigenen Lebensrealität ist.“

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Doch das Wegschauen will der Arzt nicht durchgehen lassen – nicht der Mehrheit der Gesellschaft, nicht der Politik. „Viele Entscheidungsträger sind immer noch viel zu weit weg von der Realität armer Menschen“, sagt er. „Sie denken, unser Sozialstaat kompensiert alles. Aber sie sehen nicht, dass Hartz IV eben nicht wirklich eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht.“

Als Trabert Anfang des Jahres antrat als Kandidat der Linken für das Amt des Bundespräsidenten, tat er das vor allem, um eine Debatte anzustoßen darüber, wie ein reiches Land umgeht mit seinen Ärmsten. Die Wahl verlor er. Doch der wiedergewählte Amtsinhaber Frank-Walter Steinmeier kam vorbei in Mainz, sprach mit Trabert über seine Arbeit und die Lücken im System.

Bei Minustemperaturen macht Trabert sich Sorgen um seine Patienten

Zurück in der Innenstadt will Trabert nach einem Patienten namens Ismet sehen. Eine Weile, sagt er, habe Ismet unter dem kleinen Dachvorsprung der Stadtbibliothek geschlafen. Doch inzwischen steht vor dem schmalen Streifen trockenen Pflasters ein Zaun, so dass dort niemand mehr liegen kann. Ein „Vertreibungszaun“, wie Trabert sagt. Ismet war deshalb umgezogen, ein paar hundert Meter weiter, in den Schatten der beiden höchsten Bürotürme Mainz‘. Doch als Trabert dort ankommt, ist das Lager leer. Ein paar Decken auf einer Matratze sind noch da, eine Jacke daneben. Aber Ismet fehlt.

Trabert zieht die Augenbrauen zusammen. „Bei solchen Temperaturen machen wir uns schon große Sorgen.“ Doch er hat eine Idee, wo Ismet sein könnte, glaubt, den gelben Schlafsack, den Ismet nutzt an anderer Stelle in der Stadt gesehen zu haben. Also zurück ins Arztmobil, und mit dem wuchtigen Transporter weiter durch die engen Gassen der Mainzer Innenstadt.

Wenige Minuten hält der Wagen wieder. Trabert hat das Lager gefunden, wo er Ismet vermutet. In der Ecke eines Lade-Eingangs zeichnet unter einer weißen Decke deutlich die Figur einer liegenden Person ab. Am Fußende blitzt ein gelber Schlafsack durch. „Ismet“, ruft Trabert, „hier ist der Doktor!“

Ein Passant spendet spontan 50 Euro an das Arztmobil

Doch als der Arzt sich neben das Lager kniet, stellt sich heraus: Der Mann unter der Decke ist nicht Ismet. Stattdessen begrüßt Trabert Herrn Heinrich*, auch er ein Patient. Wie es ihm gehe, will Trabert wissen, und als klar wird, dass Heinrich eine Wunde am Fuß hat, bittet er ihn ins Arztmobil. Langsam steht Heinrich auf. Zwischen dem Bund seiner Wollmütze, dem dicken Schal und der Winterjacke ist kaum Angriffsfläche für die Kälte. Doch die Füße stecken in dünnen Socken, schmale Knöchel sind über dem Bund zu erkennen.

Drinnen im Mobil packen Trabert und Ullmann-Schüler vorsichtig Heinrichs Fuß aus. „Das sieht nicht so gut aus“, sagt Trabert, als das Bein schließlich freigelegt ist. Die offene Stelle am Knöchel ist entzündet. Sie säubern die Wunde, verbinden sie neu. Ausgerechnet frische Socken sind an diesem Tag aus im Arztmobil.

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Doch das eigentliche Problem würden auch sie nicht lösen. Damit der Fuß heilen kann, erklärt Trabert seinem Patienten, muss der sauber bleiben, der Verband immer wieder gewechselt werden. Der Arzt appelliert an Heinrich, donnerstags oder freitags ins Thaddäusheim zu gehen, wo Ullmann-Schüler arbeitet, für eine Dusche und frische Kleidung. Ullmann-Schüler sekundiert: „Wenn das nicht regelmäßig verbunden wird“, sagt sie, „gehen Sie irgendwann mit einer Sepsis ins Krankenhaus“.

Heinrich zögert. Zu viele andere Menschen sind ihm da, zu viele Unwägbarkeiten. „Donnerstag und Freitag, ja?“, sagt er schließlich. Überzeugt klingt es nicht.

„Ich habe immer mehr Probleme, in unserem Gesellschaftssystem zu funktionieren“

Als Trabert nach Heinrichs Behandlung aussteigt, steht ein Passant vor dem Wagen und mustert das Arztmobil. Dann holt er 50 Euro aus dem Portemonnaie, eine spontane Spende, und drückt sie Trabert in die Hand. „Können Sie bestimmt gebrauchen“, sagt er, und geht schnell weiter.

Der Arzt ist bekannt in Mainz, das Mobil ist nicht sein einziges Projekt. Der Verein Armut und Gesundheit, den er gegründet hat, betreibt auch die „Ambulanz ohne Grenzen“, die offen ist für alle, die keine Krankenversicherung haben oder sich die Zuzahlungen nicht leisten können.

Auch international arbeitet er, war, unter anderem, auf Seenotrettungsmissionen im Mittelmeer dabei und mehrmals auf im höllischen Camp von Moria auf Lesbos, hat Erdbebenopfer in Haiti behandelt und Straßenkinder in Kenia.

Er hat viel Leid gesehen in seiner Laufbahn als Sozialpädagoge und Arzt. Wie geht man damit um? Trabert atmet tief ein, bevor er antwortet. „Ich habe immer mehr Probleme, in unserem Gesellschaftssystem zu funktionieren“, sagt er dann. Viele Dinge, die Priorität hätten, seien „letztendlich bedeutungslos“. An der Hochschule etwa – Trabert ist Professor für Sozialmedizin an der Hochschule Rhein-Main – gebe es immer wieder Diskussionen, mit denen er nicht anfangen könne, wo die eine Variante einer Entscheidung so gut sei wie die andere. Es falle ihm schwerer, im Alltag dieser Bedeutungslosigkeiten zurechtzukommen.

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Ausgerechnet die aktuelle Krise könnte etwas bewegen, hofft Trabert

Dort, wo es um etwas Bedeutendes geht, könnte ausgerechnet die aktuelle Inflations- und Preis-Krise etwas ändern. Dass die Wirtschaftsweisen jetzt eine Vermögensabgabe fordern, dass auch Steinmeier die Reichen mehr in die Pflicht nehmen wolle – „da tut sich etwas“, sagt Trabert. „Es rückt mehr ins Bewusstsein, dass es sich bei der Umverteilungsfrage nicht um eine Neiddebatte handelt, sondern um Verhältnismäßigkeit.“ Die Reichen müssten nicht noch reicher werden, „aber wir müssen verhindern, dass Menschen arm werden, und wir müssen die, die arm sind, aus dieser Notlage wieder herausführen.“

*Name geändert