Berlin. Lange war der Wirtschaftsminister der erste Energieeinspar-Prediger der Nation. Jetzt will er Bürger und Firmen an die Kandare nehmen.

Naivere Zeitgenossen hatten sich vermutlich schon erleichtert zurückgelehnt. Das russische Gas fließt seit Donnerstag wieder durch die Erdgas-Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Zwar nur 40 Prozent der Maximal-Kapazität, aber immerhin. Präsident Wladimir Putin hat den Gashahn nicht – wie von vielen befürchtet – völlig zugedreht. Also alles halb so wild?

Mitnichten! Putin liefert 40 Prozent und nicht 100 Prozent, wie er es problemlos tun könnte. Der Kremlchef ist nicht die Caritas der internationalen Energiewirtschaft. Er verknappt das Gasangebot, um den Preis nach oben zu treiben. Mit den Einnahmen finanziert er seine hochtourige Rüstungswirtschaft und damit auch den barbarischen Ukraine-Krieg.

Michael Backfisch, Politik-Korrespondent.
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent. © Reto Klar | Reto Klar

Wirtschaftsminister Robert Habeck hat dies erkannt. Er entlarvt das unsägliche Drama um die angeblich fehlende Gas-Turbine von Siemens als großes Ablenkungsmanöver des russischen Präsidenten. Und er benennt die Gefahren unmissverständlich: Putin sei ein „Unsicherheitsfaktor im Energiesystem“. Der Gasdurchfluss von heute könne den Gasstopp von morgen bedeuten, warnt der Grünenpolitiker.

Verbindliche Heizungschecks für Wohnungseigentümer sind ein bedeutender Einschnitt

Doch Habeck ist nicht nur Klartext-Redner, wenn es darum geht, den Ernst der Lage zu beschreiben. Er lässt nun auch seine Rolle als erster Energieeinspar-Prediger der Nation hinter sich. Der Wirtschaftsminister greift erstmals zu Vorschriften für Privathaushalte und Unternehmen. Dass Hausbesitzer künftig ihre Pools im Winter nicht mehr mit Gas beheizen dürfen, ist wohl noch am ehesten zu verschmerzen.

Doch verbindliche Heizungschecks für Wohnungseigentümer sind ein bedeutender Einschnitt. Eine Wartung der Heizungsanlage kostet Geld, kann aber bis zu 15 Prozent der Energie einsparen und entlastet somit langfristig das Budget. Das Gleiche gilt für den Austausch ineffizienter Heizungspumpen. Dass die in manchen Mietverträgen vorgesehene Klausel, in der Wohnung für eine Mindesttemperatur zu sorgen, künftig entfallen soll, darf man als zumutbar betrachten.

Räume, in denen sich Menschen nicht länger aufhalten, bleiben im Winter kalt

Habeck schaltet den Energieeinspar-Turbo ein – auch bei Firmen. Wenn Räume, in denen sich Menschen nicht länger aufhalten, im Winter kalt bleiben, mag dies im Einzelfall ungemütlich sein. Aber mit entsprechend warmer Kleidung kann man sich wappnen.

Habecks Ansatz ist richtig: Die Menschen in Deutschland und Europa dürfen nicht wie das Kaninchen auf die Schlange nach Moskau starren. Jetzt ist es wichtig, in einem Breitband-Paket zu handeln und die Initiative zurückzugewinnen. Das Fernziel der Klimaneutralität hin zu mehr Energie aus Wind, Sonne, Biomasse und Wasserstoff muss mit noch mehr Tempo angepackt werden.

Ab dem 1. Oktober gehen auch die verpönten Braunkohlekraftwerke wieder ans Netz

Gleichzeitig ist die Diversifizierung der Wirtschaft Trumpf, um die Abgängigkeit von Russland herunterzufahren. Es ist dem ehemaligen Grünen-Chef Habeck hoch anzurechnen, dass er über seinen ideologischen Schatten springt und dabei auch lange geltende Tabus knackt. Er holt nicht nur Kohlekraftwerke aus der Reserve, sondern ab dem 1. Oktober auch die verpönten Braunkohlekraftwerke.

Es ist der neue Pragmatismus in Kriegszeiten. Dadurch wird Gas für die Verstromung eingespart und kann in die Speicher fließen. Dass diese zum 1. November zu 95 Prozent gefüllt sein sollen, erhöht den Energiepuffer, um über den Winter zu kommen.

Habecks Krisen-Katalog ist besser zu verkraften als der Notfall-Plan Gas

Habecks Krisen-Katalog mag dem einen oder anderen als zu hart erscheinen. Aber in der Summe sind die Maßnahmen allesamt besser zu verkraften als der Notfall-Plan Gas. Die Bundesnetzagentur müsste dann die Rationierung für die Wirtschaft vornehmen. Es wäre ein Keulenschlag für viele Unternehmen – mit unkalkulierbaren Konsequenzen. Lieber vorbeugen.

Dieser Text erschien zuerst auf waz.de