Berlin. Evgenia G. ist alleinerziehend und lebt von Hartz IV. Noch nie hatte sie so große Angst, auf der Straße zu landen wie während Corona.

  • Besonderes einkommensschwache Menschen werden von der Corona-Pandemie hart getroffen
  • So auch Evgenia G. – sie ist alleinerziehend, lebt von Hartz IV und und hat keine eigene Wohnung
  • Hier berichtet sie von ihrer Situation und der Angst, auf der Straße zu landen

Evgenia G. ist es gewohnt, nach Hilfe zu fragen. Seit drei Jahren klopft die alleinerziehende Mutter an sämtliche Türen, um ein eigenes Zuhause zu finden. "Sozialamt, Jugendamt, Internetanzeigen - ich hab es überall versucht. Es gibt nichts", sagt die 27-Jährige aus Berlin. "Ich hätte schon längst aufgegeben, wenn es nicht auch um meine Tochter gehen würde."

Bis zu dem Punkt, an dem Evgenia G. mit ihrem heute dreijährigen Kind ohne Job und ohne Wohnung da stand, sei vieles schief gelaufen, sagt sie. Schon als sie mit zwölf Jahren nach Deutschland kommt, hat ihre Familie, Spätaussiedler aus der Ukraine, einen schwierigen Start. Mutter und Vater finden keine Arbeit. Die Familie wird vom Jobcenter unterstützt - schließlich trennen sich die Eltern. "Es war nie genug Geld da", sagt Evgenia G., die heute wieder von Hartz IV lebt. Aber zumindest sei es damals nicht so schwer gewesen eine Wohnung zu finden.

Die Pandemie, sagt sie, habe vieles noch schlimmer gemacht. Nie hatte sie so große Angst, auf der Straße zu landen, wie Anfang des Jahres als die Zahl der täglichen Corona-Todesfälle ihren Höhepunkt erreicht.

Immer mehr Familien, die Hartz IV beziehen, leben in Wohnheimen.
Immer mehr Familien, die Hartz IV beziehen, leben in Wohnheimen. © iStock / Stadtratte

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Durch Corona steigt der Druck auf Hartz-IV-Empfänger

Auch Marco Schulze, Geschäftsführer der Miet- und Obdachlosenhilfe My Way bestätigt, dass durch das Coronavirus der sowieso schon große Druck für Hartz-IV-Empfänger auf dem Wohnungsmarkt weiter steigt. "Günstige Wohnungen sind sowieso schon Mangelware." Auch vermehrte häusliche Gewalt in der Krise führe dazu, dass viele eigentlich eine neue Bleibe brauchen.

Gewalt ist auch bei Evgenia G. der Auslöser dafür, dass sie aus ihrer Wohnung raus muss. Ihre Geschichte erzählt sie so: Mit 17 bricht sie die Schule ab und beginnt, in verschiedenen Bars zu kellnern. "Ich dachte, Arbeiten bringt mehr als Lernen." Eine Entscheidung, die sie bis heute bereut. Denn eine sichere Einnahmequelle hat sie nie. Oft wird ihr vom einen auf den anderen Tag gekündigt. Mit Anfang 20 lernt sie schließlich ihren Mann kennen. Sie ziehen zusammen und bekommen ein Kind. Es schien alles gut zu sein. Doch zwischen dem Paar kommt es immer wieder zu Streit. Ihr Mann geht fremd. "Irgendwann hat er mich geschlagen."

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Evgenia G. ist alleinerziehende Mutter und findet keine Wohnung. Unter der Corona-Pandemie leiden Hartz-IV-Empfängerinnen besonders stark.
Evgenia G. ist alleinerziehende Mutter und findet keine Wohnung. Unter der Corona-Pandemie leiden Hartz-IV-Empfängerinnen besonders stark. © Julia Backes

Evgenia G. informiert das Jugendamt. Die Polizei wird eingeschaltet. Mutter und Tochter ziehen Anfang 2018 aus der gemeinsamen Wohnung aus. "Ich konnte nicht dort bleiben. Mein Schwager wohnte direkt nebenan. Mein Mann hat gegenüber gearbeitet." Sie kommt mit ihrem damals fünf Monate alten Baby vorübergehend bei ihrem Onkel unter. Doch irgendwann ist dort kein Platz mehr für sie. Von Vermietern, auf deren Wohnungen sie sich bewirbt, bekommt sie nur Absagen.

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Zuerst ist es ihr negativer Schufa-Eintrag, der getilgt werden muss. Mal fehlt eine Bescheinigung zur Mietkostenübernahme, mal will das Jobcenter zuerst den Mietvertrag sehen. Die letzten anderthalb Jahre wurde sie nicht einmal zu Besichtigungsterminen eingeladen. Auf wie viele Wohnungen sie sich mittlerweile beworben hat, weiß Evgenia G. nicht mehr - an manchen Tagen sind es drei bis vier.

Hartz IV: Viele Familien mit Kindern leben im Wohnheim

Das Klischee, dass Vermieter gerne Leistungsempfänger nehmen, weil deren Miete jeden Monat pünktlich vom Amt überwiesen wird, stimmt schon lange nicht mehr. Das sei vielleicht noch vor zehn Jahren so gewesen, sagt Marco Schulze von My Way. "Heute ist die Nachfrage nach Wohnraum viel zu hoch."

Das Jobcenter helfe bei der Suche nicht. Hartz-IV-Empfänger schauen wie jeder andere ins Internet, um eine Wohnung zu finden. Das große Problem: Viele Leistungsbezieher kommen laut Schulze aus bildungsfernen Schichten und können die Anforderungen an eine Bewerbung nicht erfüllen. Sozialwohnungen gebe es in den deutschen Großstädten viel zu wenige - auch für Härtefälle wie alleinerziehende Mütter. "Helfen kann das Sozialamt. Tut es aber nicht immer", erklärt Schulze. Allerdings sei die Behörde verpflichtet, zumindest einen Platz im Wohnheim anzubieten.

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Dorthin oder ins Frauenhaus möchte Evgenia aber nur im allergrößten Notfall - zu groß wäre für sie der soziale Abstieg. "Das Zimmer hätte ich mir mit drei anderen Frauen teilen müsen." Dabei füllen sich die Wohnheime in den Städten zunehmend mit Menschen, die bisher nicht von Wohnungslosigkeit bedroht waren, und eben auch mit Kindern von Hartz-IV-Empfängern. "Wir erleben, dass Familien monatelang in anderthalb Zimmern untergebracht werden", so Schulze.

Corona und Hartz IV: Wohnverhältnisse werden immer schwieriger

Evgenia G. kommt im Sommer 2019 in der 63-Quadratmeter-Wohnung ihres Bruders unter. Seitdem schläft sie mit ihrer Tochter auf der Couch im Wohnzimmer mit offener Küche. Privatsphäre gibt es für sie nicht. Auch ihre Mutter lebt dort. Sie und Evgenias Bruder haben je ein eigenes, kleines Zimmer.

Mit der Pandemie werden die Verhältnisse immer schwieriger. Alle vier sitzen 24 Stunden am Tag aufeinander. Evgenia holt ihren Hauptschulabschluss nach, zusätzlich macht sie wie ihr Bruder und ihre Mutter eine Weiterbildung im Pflegebereich. Alle wollen raus aus der Abhängigkeit vom Amt. "Aber drei Erwachsene im Homeschooling und ein Kind, das nicht in die Kita kann. Das ist zu viel", sagt sie.

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Ständig gibt es Streit, der Druck ist groß. Wochentags bis 15 Uhr geht der Online-Unterricht. Die Tochter wird vor dem Fernseher geparkt. Doch den ganzen Tag leise sein, das schafft eine Dreijährige nicht. Evgenias Bruder will, dass sie so schnell wie möglich auszieht, sie habe doch nur für drei Monate bleiben wollen.

Hartz IV: Jobcenter zahlt Miete bis zu gewisser Höhe

Per Zufall sieht sie das Büro der Miet- und Wohnungslosenhilfe. Sie fragt auch hier nach Hilfe. "Ich kenne da mittlerweile keine Scham mehr", sagt Evgenia G.. My Way beantragt mit ihr ein betreutes Einzelwohnen. Zumindest für ein halbes Jahr hat sie jetzt für sich und ihre Tochter eine eigene Wohnung - solange gilt die Bewilligung des Sozialamtes erst einmal.

Fehlt nur noch die Kostenübernahme des Jobcenters für eine Erstaustattung. Denn mehr als Kleider und Spielsachen, die in zwei Taschen und Koffer passen, besitzt Evgenia nicht - Möbel, Küchengeräte sowie alles andere blieb bei ihrem Mann. "Ich hoffe, dass ich bald nicht mehr auf Unterstützung angewiesen bin."

Denn auch wenn das Amt die Wohnungskosten von Hartz-IV-Empfängern bis zu einer gewissen Höhe übernimmt, bedeutet das keine absolute Sicherheit. Erhöht der Wohnungseigentümer die Miete, werden Leistungsempfänger in der Regel vom Jobcenter aufgefordert, sich eine günstigere Bleibe zu suchen, erklärt Schulze. Finden die Betroffenen keine neue Wohnung, kann das schlimmstenfalls dazu führen, dass das Amt nicht mehr zahlt und die Betroffenen auf der Straße landen.

Ihren Traum von den richtigen eigenen vier Wänden gibt Evgenia trotz aller Unwägbarkeiten nicht auf. Große Ansprüche hat sie nicht. Ein eigenes Zimmer für ihre Tochter wäre schön. Fest steht für Evgenia G. nur: "Ich will nie wieder in die Situation kommen, dass ich diejenige bin, die ausziehen muss. Ein Mann zieht bei mir nur noch als Untermieter ein."