Peking. In Hongkong sind Aktivisten seit Tagen in der letzten besetzten Universität von Polizisten eingekesselt. Wie aussichtslos ist die Lage?

Es sind Szenen wie diese, die viele Hongkonger erzürnen lassen: Mehrere Dutzend junger Menschen in gelben Signalwesten sitzen auf dem nackten Asphalt, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, eingekreist hinter Bereitschaftspolizisten und Absperrbändern.

Bei den in der Nacht zum Montag Festgenommen handelt es sich jedoch nicht um gewalttätige Aktivisten, sondern um freiwillige Helfer für die Versorgung verwundeter Demonstranten.

„Das ist ungeheuerlich! Die Hongkonger Regierung hat die Kontrolle über ihre Polizeigewalt verloren. Ein Blutbad ist auf dem Weg“, twitterte der 23-jährige Joshua Wong, das mediale Gesicht der Protestbewegung. Die Befürchtung des Studentenaktivisten ist keinesfalls unbegründet.

Die Polytechnische Universität ist die letzte noch von Aktivisten besetzte Hochschule, und die Lage ist äußerst dramatisch: Der Versorgungsstrom ist abgeschnitten; vor allem Trinkwasser, Lebensmittel und medizinische Ausrüstung werden knapp. Längst sitzen die Aktivisten fest, eine Flucht ohne Verhaftung scheint derzeit nicht möglich: An den Ausgängen wartet die Polizei mit Tränengasgeschossen und jagt die Studenten wieder zurück.

US-Außenminister Pompeo will unabhängige Untersuchung

Angesichts der schweren Auseinandersetzungen hat die US-Regierung zum Gewaltverzicht aufgerufen und eine unabhängige Untersuchung der Zwischenfälle verlangt. „Gewalt ist von jeder Seite inakzeptabel“, sagte US-Außenminister Mike Pompeo am Montag in Washington. Es sei an erster Stelle Aufgabe der Regierung von Hongkong, für Ruhe zu sorgen.

Strafverfolgungsbemühungen allein seien keine Lösung. Die Regierung müsse auf die Sorgen in der Öffentlichkeit eingehen. Konkret rief Pompeo Regierungschefin Carrie Lam auf, eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle bei den Protesten in Gang zu setzen.

Der US-Chefdiplomat appellierte außerdem an die chinesische Führung, ihre Versprechen gegenüber den Menschen in Hongkong zu halten, die nur jene Freiheiten einforderten, die ihnen zugesagt worden seien.

Seit mehr als fünf Monaten hält die Protestbewegung gegen die Aushöhlung der Freiheiten Hongkongs durch Festlandchina bereits an. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die noch junge Woche die brutalsten Auseinandersetzungen dieses Konflikts bereithält. Allein am Montag hat die Bereitschaftspolizei rund 150 Demonstranten festgenommen, nebenbei auch eine Handvoll Journalisten. Die Gewalt hat sich seit dem Wochenende vor allem auf die Universitäten verlagert. Gemessen an den Umständen ist es fast ein Wunder, dass der Konflikt bislang nicht noch mehr Opfer gefordert hat.

Weiteres Opfer bei Protesten in Hongkong

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    Hongkong: Polizei droht an Uni mit Waffengebrauch

    Die Polizei hatte bei den Gefechten an der Polytechnischen Universität am Montagmorgen angedroht, von ihrem Waffenrecht Gebrauch zu machen. „Wir haben keine andere Wahl, als die nötige Gewalt anzuwenden, um der Situation Herr zu werden“, sagte der Leiter der Hongkonger Polizei, Louis Lau, der die Aktivisten „kaltblütige Randalierer“ nannte. Diese setzten eine Zugangsbrücke zum Universitätscampus in Brand und schossen mit Pfeil und Bogen auf die Polizei, wobei ein Beamter am Bein verletzt wurde.

    „Die zunehmende Gewalt bei den Protesten und die daraus resultierenden Verletzungen von unbeteiligten Personen ist alarmierend, doch die harte Reaktion der Polizei gegenüber größtenteils friedlichen Demonstranten während der letzten Monate ist der Hauptgrund für die Eskalation“, sagt Man-Kei Tam, Leiter von Amnesty International Hongkong. Derzeit sei die Menschlichkeit der Machteliten gefragt, doch stattdessen würden diese mit Tränengas, Schlägen und Androhungen tödlicher Gewalt antworten.

    Die Lokalregierung hatte zudem am Montag bekanntgegeben, dass die Entwicklungen am Wochenende „die Wahrscheinlichkeit gemindert“ hätten, die für kommenden Sonntag geplanten Kommunalwahlen wie geplant abzuhalten. Eine Verschiebung oder gar Streichung der Wahlen würde in dem Konflikt zusätzlich Öl ins Feuer gießen: Laut einer aktuellen Umfrage der Hongkonger Tageszeitung „Ming Pao“ vom Oktober liegen die pro-demokratischen Kandidaten mit Zustimmungswerten von 44,5 Prozent weit vor den Peking-Loyalisten mit sechs Prozent.

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    Chinas Medien berichten sehr selektiv über Hongkong

    In Festlandchina wird das Thema Hongkong längst nicht mehr medial totgeschwiegen, doch es wird extrem selektiv berichtet. Die „Global Times“, englischsprachiges Propagandaorgan der Kommunistischen Partei in Peking, publiziert vor allem Videoaufnahmen von frustrierten Hongkongern, die die Straßenblockaden der Demonstranten aufräumen. Zudem wird in Leitartikeln und Tweets die wirtschaftliche Abhängigkeit der Sonderverwaltungszone von China und die wirtschaftliche Misere betont, in die die Protestbewegung Hongkong geführt hat.

    Generell lautet der Tenor der chinesischen Medien, dass die Polizei schnellstmöglich der Gewalt ein Ende setzen müsse. Wiederholt wird die Gewaltbereitschaft der Demokratiebewegung betont: Auf sozialen Medien kursiert unter jungen Chinesen ein äußerst brutales, einminütiges Video, auf dem ein mittelalter Mann in grünem Polohemd zu sehen ist, der sich auf einer Hongkonger Straßenüberführung mit einer Gruppe Aktivisten streitet. Plötzlich erscheint ein schwarz vermummter Aktivist und besprüht den Mann mit einer brennbaren Flüssigkeit und zündet ihn an.

    Vor allem junge Einwohner aus den urbanen Großstädten der Ostküste wissen in Grundzügen über den Konflikt bescheid, zumal einige eine sogenannte VPN-Software zur Umgehung der chinesischen Internetzensur benutzen. Doch Sympathie für die Aktivisten bekommt man höchstens hinter vorgehaltener Hand zu hören. Die vorherrschende Meinung schwankt zwischen gleichgültiger Indifferenz und Wut, dass die Polizei die chaotische Lage der „Aufständischen“ noch nicht in den Griff bekommen hat. Für die ungemeine Opferbereitschaft der Hongkonger Demonstranten haben die meisten Festlandchinesen kein Verständnis.

    Bereitschaftspolizisten inmitten einer Rauchwolke während Zusammenstößen mit Demonstranten in der Nähe der Polytechnische Universität.
    Bereitschaftspolizisten inmitten einer Rauchwolke während Zusammenstößen mit Demonstranten in der Nähe der Polytechnische Universität. © dpa | Achmad Ibrahim

    Ex-Botschafter warnt vor Bürgerkrieg

    Volker Stanzel von der Stiftung für Wissenschaft und Politik erklärt diese vor allem durch die Angst vor der vertraglichen Wiedervereinigung der einst britischen Kolonie mit Festlandchina im Jahr 2047. „Jungen Hongkongern wird vor Augen geführt, was es für ihr Leben bedeutet, wenn sie mit 40 oder 50 Jahren in einem System wie dem der Volksrepublik leben müssen. Und so reagierten sie empfindlich, als Peking begann, die Angleichung an das politische System der Volksrepublik mit der Brechstange durchzusetzen“, sagt der lang gediente Diplomat, der von 2004 bis 2007 den Botschafterposten in Peking innehielt.

    Stanzel nennt Hongkong „das Westberlin Asiens“ – und warnt vor einer militärischen Einmischung durch Festlandchina: „Sollte die chinesische Volksbefreiungsarmee in einer Großstadt mit mehr als sieben Millionen Einwohnern so vorgehen wollen, wie seinerzeit auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wäre ein lang anhaltender Bürgerkrieg zu erwarten.“

    Der nächste blutige Konflikt droht nun um die Polytechnischen Universität: Aktivisten haben eine „Operation Dünkirchen“ – in Anspielung auf die Evakuierungsmission der Alliierten während des Zweiten Weltkriegs – geplant. Es lässt sich nur schwer vorstellen, wie ein solches Himmelfahrtskommando angesichts der übermächtigen Polizeipräsenz gelingen soll. Mit Einbruch der Dunkelheit ziehen jedoch etliche Tausend, bislang friedliche Demonstranten zum Universitätscampus. Auch die Tränengasgeschosse der Polizisten können die Massen nicht abschrecken. „Rettet die Studenten!“, rufen sie voller Entschlossenheit in die Hongkonger Nacht.