Berlin/Brüssel. Flüchtlingsdeal mit Erdogan, Dialog mit Putin: In ihrer letzten Bundestagsrede will die Kanzlerin von einem Abschied nichts wissen.

Wenn dies hier die Abschiedsfeier für Angela Merkel im Bundestag sein sollte, dann sprengt die Kanzlerin gerade persönlich die Festlichkeit. Kurz nach neun Uhr beginnt Merkel ihre wahrscheinlich letzte Rede im Bundestag, aber was sie als Regierungserklärung zur Europapolitik vorträgt, sind nicht die von vielen erwarteten Abschiedsworte.

Bevor sie gleich ein letztes oder vorletztes Mal nach Brüssel zum Gipfel der EU-Regierungschefs fliegt, macht die Kanzlerin eines klar: Sie hat noch viel vor. Auf mehreren Baustellen kämpft sie leise im Ton, aber sehr entschlossen um ihr europapolitisches Erbe.

Merkel: Pandemie überstehen wir nur gemeinsam

Das von der Kanzlerin geschmiedete Flüchtlingsabkommen mit der Türkei soll unbedingt auch nach ihrem Auszug aus dem Kanzleramt bestehen bleiben, begleitet von einem tragfähigen Verhältnis zu Präsident Recep Tayyip Erdogan. Merkel will die EU zudem auf den Dialog mit Russlands Präsident Wladimir Putin einschwören, einen EU-Gipfel mit dem Kreml-Herrscher inklusive.

Damit löst die Kanzlerin in Brüssel vorab große Irritationen aus. Aber im Bundestag spüren sie davon nichts. Nüchtern bilanziert Merkel erstmal, dass Europa ganz gut durch die Corona-Pandemie gekommen sei, nun aber auch Lehren für die gemeinsame Krisenreaktion und den Gesundheitsschutz gezogen werden müssten: „Ich bin überzeugt, dass wir nur zusammen erfolgreich die Herausforderungen der Pandemie wie auch der anderen großen Aufgaben meistern können“, sagt sie und spricht auch Fehler an.

Kanzlerin fordert Fortsetzung des Flüchtlingsabkommens

Aber dann ist die Kanzlerin schnell bei dem Thema, das sie in den letzten Wochen mit vielen Telefonaten und Treffen vorbereitet hat. Das 2016 vereinbarte Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, das damals auf Merkels Betreiben zustande kam, müsse fortgesetzt werden.

So wird es später am Abend der EU-Gipfel im Prinzip akzeptieren. Sechs Milliarden Euro hatte die EU vor fünf Jahren für die Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Türkei zugesagt; im Gegenzug versprach Ankara, durch besseren Grenzschutz die Migranten an der Weiterreise in die EU zu hindern und sie gegebenenfalls wieder aus Griechenland zurückzunehmen.

Der Deal hat viel zur Entspannung in der Flüchtlingskrise beigetragen und Merkel vor größerem politischem Schaden bewahrt. Aber das Geld ist nun fast aufgebraucht.

Eine Wiederholung der Flüchtlingskrise 2015 will Merkel unbedingt vermeiden – das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei soll dabei entscheidend helfen.
Eine Wiederholung der Flüchtlingskrise 2015 will Merkel unbedingt vermeiden – das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei soll dabei entscheidend helfen. © picture alliance / BARBARA GINDL / APA / picturedesk.com | Barbara Gindl

Was passiert, wenn es keinen Nachschlag gibt, demonstrierte Erdogan, als er im März 2020 mal kurz die Grenzen für Flüchtlinge öffnete. Merkel hat danach mit Mühe verhindert, dass die EU einen härteren Kurs gegenüber Ankara einschlägt und wegen des folgenden Gasstreits im Mittelmeer sogar umfangreiche Sanktionen verhängt.

Jetzt aber ist wieder von einer „positiven Agenda“ die Rede. Den Regierungschefs liegt ein Papier der EU-Kommission vor, in dem die Zahlung von weiteren 3,5 Milliarden Euro bis 2024 vorgeschlagen wird. „Die Türkei leistet Herausragendes, was die Unterstützung von 3,7 Millionen syrischstämmigen Flüchtlingen anbelangt, das verdient unsere Unterstützung“, meint Merkel.

Osteuropäische EU-Staaten verärgert über Vorstoß

Für größere Debatten aber sorgt die Berliner Positionierung zu Russland. Mit Unterstützung von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die Kanzlerin dem Gipfel kurzfristig eine Gesprächsinitiative unterbreitet, die im Kern darauf hinausläuft, den russischen Präsidenten zum Gipfeltreffen mit den EU-Regierungschefs einzuladen. „Es genügt nicht, wenn US-Präsident Joe Biden mit dem russischen Präsidenten spricht“, sagt Merkel.

Auch die EU müsse den direkten Kontakt mit Moskau und Staatschef Wladimir Putin suchen. Es gebe gemeinsame strategische Interessen, etwa beim Klimaschutz oder Sicherheitsfragen. Der Vorschlag, den Merkel nach einem Anfang der Woche geführten Telefonat mit Putin lancierte, kommt für viele Regierungschefs völlig überraschend.

Für die Gipfelberatungen hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell das Verhältnis zu Moskau in düsteren Farben gemalt und gefordert, entschlossener auf russische Provokationen zu antworten. Merkel aber mahnt, Konflikte könnten am besten gelöst werden, wenn man auch miteinander rede.

Teil ihrer Überlegung ist, dass die EU bei so einem Gipfel endlich mit einer Stimme zu Putin sprechen würde, statt wie bisher „reichlich unkoordiniert zu reagieren“; auch Sanktionen schließen sie und Macron nicht aus. Eine Mehrheit der Mitgliedstaaten ist bereit, über die Idee zu reden, aber vor allem in Osteuropa ist die Verärgerung groß.

Kritik aus dem Baltikum: Merkel-Vorstoß „historisch kurzsichtig“

Immerhin hat Merkel erreicht, dass sie in Brüssel nicht als „lahme Ente“ behandelt wird. Ihr Abschied ist in Europa längst ein Thema und überwiegend Anlass zur Sorge. Mit Merkels Führungsstil konnte Europa gut leben: Sie hat stets darauf geachtet, dass sich die vielen anderen, kleineren EU-Staaten mitgenommen fühlen und nicht den Eindruck haben, vom deutsch-französischen Tandem bevormundet zu werden.

Die EU zusammenzuhalten, geduldig Kompromisse zu schmieden war das Grundprinzip ihrer Europapolitik. Umso größer die Überraschung über den Russland-Vorstoß aus Berlin und Paris. Vor allem die Regierungen in Polen und dem Baltikum sind enttäuscht. Dort pocht man auf eine kompromisslos harte Linie gegenüber Moskau. Harsch nannte Litauens Außenminister Merkels Aufruf „unverantwortlich“ und „historisch kurzsichtig“.