Washington. Am Jahrestag der Kapitol-Erstürmung fühlen sich viele Polizisten weiterhin im Stich gelassen. Noch immer sind viele Fragen ungeklärt.

Aquilino Gonell und der frühere Vize-Präsident der USA werden in diesem Leben keine Freunde mehr. Am 6. Januar vor einem Jahr stemmte sich Gonell bereits schwer verletzt mit letzter Kraft gegen den Versuch aufrührerischer Donald Trump-Anhänger, in das Kapitol in Washington einzudringen. Sie wollten Mike Pence, Trumps damaligen Vize, der über die verfassungsgemäße Beglaubigung des Wahlsieges von Joe Biden zu wachen hatte, ausweislich skandierter Parolen "aufhängen".

Gonell, ein Einwanderer aus der Dominikanischen Republik, der für die USA im Irak-Krieg kämpfte und es zum Sergeant bei der für die Sicherung des US-Parlaments eingerichteten Spezial-Polizei brachte, bezahlte den Einsatz gegen den wütenden Mob mit schweren Verletzungen. Er hinkt bis heute, kann einen Arm nicht vollständig bewegen. Nach Operationen plagen ihn posttraumatische Angstzustände. Und dann das:

Kapitol-Erstürmung: Wut und Verzweiflung am Jahrestag

In einem Interview machte Mike Pence kürzlich eine Äußerung, die Gonell und rund 140 weiteren Mitgliedern der "capitol police", die bei der Erstürmung des Kongresses teilweise schwer verletzt worden waren, geradezu den Boden unter den Füßen wegzog: "Ich werden den Demokraten nicht gestatten, einen tragischen Tag im Januar zu benutzen, um von der gescheiterten Politik der Biden-Regierung abzulenken."

Aggressive Trump-Anhänger stürmen das US-Kapitol: Der Angriff gilt als schwarzer Tag in der Geschichte der amerikanischen Demokratie.
Aggressive Trump-Anhänger stürmen das US-Kapitol: Der Angriff gilt als schwarzer Tag in der Geschichte der amerikanischen Demokratie. © Anadolu Agency via Getty Images | Anadolu Agency

Als Gonell das hörte, stiegen Wut und Verzweiflung in ihm hoch. "Dieser Tag im Januar hätte mich fast mein Leben gekostet. Wir haben alles mögliche unternommen, um zu verhindern, das Pence gehängt und vor den Augen seiner Tochter und seiner Frau getötet wird", sagte er im Radio, "und jetzt sagt er uns, dass dieser eine Tag im Januar nichts bedeutet. Das ist eine Schande."

Gonell steht mit seinem Kopfschütteln nicht allein. Vor dem traurigen Jahrestag melden sich viele Betroffene und deren Angehörige zu Wort. Sandra Garza zum Beispiel. Sie war elf Jahre lang die Lebenspartnerin von Brian Sicknick. Der Polizist erlitt nach Attacken mit giftigem Bear-Spray (eine Art Tränengas) und Schlägen mit Eisenstangen durch Trump-Anhänger zwei Schlaganfälle und starb kurz danach. Er wurde nur 42 Jahre alt.

Kapitol-Polizisten fühlen sich im Stich gelassen

Garza macht Donald Trump dafür verantwortlich. "Er hat die Ausschreitungen provoziert. Er gehört ins Gefängnis." Auch die Angehörigen von Howard Liebengood und drei weiteren Polizisten, die sich in den Wochen nach dem Einsatz das Leben nahmen, drängen darauf, dass alle Hintermänner des versuchten Staatsstreichs "zur Rechenschaft gezogen werden".

Für die Kapitols-Polizei ist die schwerste Attacke auf die Herzkammer der parlamentarischen Demokratie in den USA seit 1814, damals brannten die Briten das Kapitol nieder, noch lange nicht ausgestanden. Die Behörde hat heute nach Angaben des neuen Chefs Thomas Manger 200 "Cops" weniger als vor der Erstürmung.

Viele Beamte haben trotz des vergleichsweise attraktiven Lohns (fast sechsstellig im Monat) resigniert aufgegeben. Sie fühlen sich, wie ein Polizei-Gewerkschafter sagt, von den oberen Rängen im Stich gelassen. Manger sagt: "Wir sind um cirka 400 Stellen unterbesetzt."

Geheimdienst hatte Informationen über einen geplanten Angriff

Dabei sei das Arbeitspensum abseits der reinen Sicherung des Kapitol-Viertels gestiegen. Im vergangenen Jahr registrierte die Polizei 9600 Drohungen, von Mord-Attentaten bis Bombenanschlägen, gegen den Kongress. Um die bestehende Belegschaft zu halten, rund 1800 Leute, wurden Prämien von bis zum 5000 Dollar ausgelobt.

Was die Cops am meisten wurmt: Es gab wenige Tage vor dem Eklat am 6. Januar ausreichend geheimdienstliche Erkenntnisse über einen Angriff diverser Gruppen von Trump-Anhängern auf das Kapitol. Warum die Einsatzkräfte nicht frühzeitig aufgestockt und angemessen ausgerüstet, sprich: bewaffnet, wurden, warum die Nationalgarde nicht präventiv zum Kongress beordert wurde - all diese Fragen sind bis heute nicht vollständig beantwortet.

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Aquilino Gonell drängt weiter auf Aufklärung. Er hält es mit seinem schwarzen Kollegen Harry Dunn. Der über zwei Meter große Ex-Footballspieler war am Abend des 6. Januar mit seinen Kräften am Ende. In der Rotunda des Kapitols schrie er unter Tränen: "Ist das Amerika? Wie zur Hölle konnte so etwas passieren?".