Berlin. Nach dem historischen Beschluss der Karlsruher Richter hat sich die Bundesregierung auf neue schärfere Klimaschutzziele verständigt.

Die Klimakanzlerin scheint die Kurve zu kriegen. An diesem Donnerstagnachmittag spricht Angela Merkel als Gastgeberin des digitalen Petersberger Klimadialogs zu Regierungschefs und Umweltministern aus der ganzen Welt. Englands Premier Boris Johnson soll dabei sein, auch UN-Generalsekretär António Guterres wird zugeschaltet.

Da passt es aus Merkels Sicht wunderbar, dass sich die Bundesregierung nun in Grundzügen auf neue schärfere Klimaschutzziele verständigt hat. Dass die schwarz-rote Koalition gut vier Monate vor der Bundestagswahl den Klimaturbo zündet, passiert nicht ganz freiwillig. Vor wenigen Tagen verdonnerte das Bundesverfassungsgericht die Regierung dazu.

Die höchsten Richter hatten in einem schon heute historischen Beschluss festgelegt, dass es gegen das Grundgesetz verstoße, wenn die aktuelle Generation durch umweltschädliches Leben und Produzieren die Grundlagen ihrer Kinder und Enkelkinder zerstöre. Karlsruhe verpflichtete den Gesetzgeber, bis Ende 2022 die Reduktionsziele für Treibhausgasemissionen für die Zeit nach 2030 näher zu regeln.

Deutschland soll 2045 klimaneutral sein

Seit der Urteilsverkündung legten viele Beamte unzählige Überstunden und Nachtschichten ein, um das Klimaschutzgesetz zu schärfen und den höchstrichterlichen Vorgaben gerecht zu werden. Finanzminister Olaf Scholz und Umweltministerin Svenja Schulze (beide SPD) verkündeten am Mittwoch nach einem Gespräch bei der Kanzlerin folgende Eckpunkte.

Deutschland soll schon 2045 klimaneutral sein. Bisher war von Mitte des Jahrhunderts die Rede. Bereits bis 2030, also in neun Jahren, sollen 65 Prozent des Kohlendioxidausstoßes im Vergleich zu 1990 geschafft sein. Das sind zehn Punkte mehr als im alten Klimaschutzgesetz vorgesehen war. Schulze jubelte über einen Meilenstein: „Wir reden hier von einer Verdoppelung des Tempos beim Klimaschutz“, sagte sie unserer Redaktion. Statt 12,5 Millionen Tonnen CO2 werde Deutschland künftig rund 25 Millionen Tonnen einsparen. Schulze wollte bereits in der Vergangenheit schärfere CO2-Ziele durchsetzen. Immer wieder war sie aber von der Union und auch von ihrer eigenen Partei gestoppt worden.

Grünen-Chef Robert Habeck begrüßte die Regierungspläne. „Es ist gut, dass die Koalition sich jetzt bewegt“, sagte er dieser Redaktion. „Unsere Zahlen sind einen Tick ehrgeiziger: Wir halten 70 Prozent CO2-Einsparung bis 2030 für nötig. Und wir wollen so schnell es geht die 100 erreichen.“ Habeck rief die Regierung auf, die neuen Klimaziele mit konkreten Maßnahmen zu hinterlegen, „sonst sind sie nur Zahlen in einem Gesetz“. Konkret forderte er einen konsequenten und schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien, einen Abbau der umweltschädlichen Subventionen und einen höheren CO2-Preis. „Das sind Dinge, die gleichzeitig mit beschlossen werden sollten.“

„Klimaneutralität kostet Deutschland Billionen“

Scholz kündigte an, die Vorlage solle nächste Woche vom Kabinett beschlossen werden und dann zügig durch den Bundestag gehen. Er und Schulze pochten auf einen rascheren Ausbau erneuerbarer Energien. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sagte das zu. Ohne mehr Windräder sei die Klimaneutralität nicht zu erreichen. Die Ausbaukosten dürften nicht auf dem Rücken der Stromkunden landen, das Geld dafür müsse also aus dem Bundeshaushalt kommen. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass aufgrund steigender CO2-Preise Heizen mit Öl und Gas sowie Benzin und Diesel beim Autofahren teurer werden. Um die Verbraucher an anderer Stelle zu entlasten, bieten die Parteien verschiedene Lösungen an.

Noch nicht im Detail klar ist, wie stark einzelne Industriebereiche wie Verkehr, Agrar und Gebäude mehr für das Klima tun müssen – oder ob die einzusparende CO2-Menge gleichmäßig über alle Branchen verteilt wird. Die Sektorziele sollen wohl erst ab 2024 deutlich verschärft werden, mit konkreten CO2-Einsparvorgaben aber erst ab 2030, hieß es aus Regierungskreisen. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) warnte vor einem teuren Alleingang: „Deutschland sollte nicht vorauseilen, ohne dass andere Staaten in Europa und weltweit ihre Anstrengungen ebenfalls verstärken. Das Erreichen der Klimaneutralität kostet Deutschland Billionen“, sagte VDA-Präsidentin Hildegard Müller. Auch Altmaier betonte, es dürfe nicht so kommen, dass andere EU-Staaten sich künftig ausruhen würden, weil das Schwergewicht Deutschland den europäischen Klimaschutz fast alleine voranbringe.

Und was wird aus der Kohle? Nach Ansicht von Fachleuten wird ein steigender CO2-Preis automatisch dafür sorgen, dass der Braunkohleabbau früher als geplant unrentabel wird. Dann könnte der Kohleausstieg früher als 2038 über die Bühne gehen – ohne dass der Staat den Betreibern für das Schließen der Reviere weitere Milliarden als Entschädigung zahlen müsste. „Mit den strengeren Klimazielen wird das der Markt regeln“, hieß es aus der Regierung.