Berlin. Notaufnahmen in Not: Seit der Corona-Pandemie hat sich die Lage massiv verschärft. Was Experten im Alltag erleben, was sie fordern.

Das ganze Land war schockiert, als in der Silvesternacht Rettungskräfte angegriffen wurden. Das Entsetzen über die beispiellose Verrohung war groß. Doch nicht nur im Ausnahmelage zu Silvester erleben Helfer Gewalt: In den Notaufnahmen der deutschen Krankenhäuser steigt das Aggressionslevel, Experten warnen vor einer „Spirale des Stresses“. Neue Zahlen belegen, wie angespannt die Stimmung mittlerweile ist.

Notaufnahme: Warum die Gewalt zunimmt

„In ganz Deutschland beobachten wir eine zunehmende Aggressivität gegenüber Rettungskräften. Das betrifft nicht nur Helfer im Rettungseinsatz, sondern auch das Personal in den Notaufnahmen“, sagt Felix Walcher, Notfallmediziner in Magdeburg. „Beschäftigte in den Notaufnahmen berichten über eine Zunahme von verbalen Attacken und Rüpeleien, es kommt aber jetzt häufiger auch zu Handgreiflichkeiten. Die Spannung in allen Bereichen des Gesundheitswesens habe zuletzt deutlich zugenommen. Walcher ist Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Was die Ärzte beobachten, deckt sich mit einer neuen, bundesweiten Umfrage der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG).

„Neun von zehn Krankenhäusern mussten bereits Erfahrung mit Gewalt gegen ihre Beschäftigten in den Notaufnahmen sammeln“, fasst DKG-Chef Gerald Gaß die Ergebnisse zusammen. 48 Prozent der Kliniken haben bereits einen Sicherheitsdienst engagiert. Die Situation habe sich in den vergangenen Jahren verschärft, auch durch die Pandemie. „Das ist gerade in den Notaufnahmen tagtäglich zu spüren, wenn Zeitdruck, Personalknappheit sowie Ängste und Sorgen der Patienten und ihrer Angehörigen aufeinanderprallen.“ Dass Menschen, die anderen Menschen helfen und ihnen sogar das Leben retten wollen, angegriffen und bedroht werden, sei ein unhaltbarer Zustand.

Rettungskräfte haben einen neuen Patienten in die Notaufnahme gebracht.
Rettungskräfte haben einen neuen Patienten in die Notaufnahme gebracht. © Marcelo Hernandez / FUNKE Foto ServiceS

Umfrage: Warum die Wartezeiten länger werden

DIVI-Chef Walcher spricht von einer „Spirale des Stresses“. Die Belastung in den Notaufnahmen verschärfe sich durch den wachsenden Personalmangel, nicht nur in den Notaufnahmen selbst. Es gebe auch große Probleme, Patienten auf die regulären Stationen weiterzuleiten – weil es auch dort wegen des Personalmangels zu wenige betreibbare Betten gibt. Die DKG-Umfrage, an der sich im Januar mehr als 100 Allgemeinkrankenhäuser beteiligt hatten, ergab, dass im vergangenen Jahr 77 Prozent der Krankenhäuser wegen Personalmangels ihre Notfallambulanzen mindestens einmal komplett abmelden mussten.

Auch dort, wo keine Schließung droht, spüren Notfallpatienten den Personalmangel unmittelbar: Die Wartezeiten in der Notaufnahme werden immer länger. „Wir sehen im bundesweiten Durchschnitt eine deutliche Steigerung der Aufenthaltsdauer in den Notaufnahmen“, sagt Walcher. Das setze die Notaufnahmen unter Druck, weil mehr Patienten in der Notaufnahme parallel zu versorgen seien, sie müssen während des Wartens weiter überwacht und betreut werden. „Wenn Patienten heute durchschnittlich zehn bis fünfzehn Minuten länger in der Notaufnahme sind als vor der Pandemie, dann hat das massive Folgen für den Alltag. Die Aggressivität steigt, Patienten verlieren die Geduld und lassen ihren Ärger am Personal aus.“ Auch die DIVI sammelt regelmäßig Daten von Kliniken bundesweit.

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Zahlreiche Fehlsteuerungen erschweren die Arbeit

Den Notaufnahmen wäre schon geholfen, wenn wirklich nur Notfälle in die Ambulanzen kämen: „Um die Notfallversorgung zu entlasten, brauchen wir in Zukunft eine sinnvolle Steuerung für Akutfälle“, fordert Walcher. Wer die Notfallnummer 112 wähle, brauche nicht zwingend den Rettungsdienst zum Transport in die Notaufnahme. Wie Umfragen zeigen, kann der ärztliche Notdienst unter der Nummer 116117 oft viel sinnvoller sein, wird aber oft überhaupt nicht angefragt.

Es gibt viele Beispiele für Fehlsteuerung: Wenn sich etwa eine pflegende Angehörige meldet, weil der hochbetagte Ehemann Schmerzen an der Blase hat, kann es besser sein, einen Gemeindenotfallsanitäter zu rufen, der Erfahrungen mit Blasenkathetern hat, als mit dem Rettungswagen in die Notaufnahme zu kommen. Oder: Wenn ein Mensch zu Hause im Sterben liegt und Schmerzen hat, kann es klüger sein, einen Palliativdienst zu rufen, als den Patienten in die hektische Notaufnahme zu bringen. Experten warnen zudem: Menschen aus Alten- und Pflegeheimen würden oft nur deswegen in Krankenhäuser eingewiesen, weil sie in den Einrichtungen mangels qualifizierten Personals nicht versorgt werden könnten.

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Reform der Notfallversorgung: Was die Politik jetzt tun muss

„Wir müssen dahin kommen, dass eine digital vernetzte Leitstelle von Rettungsdienst, Klinik-Notaufnahme und ärztlichem Notdienst klärt, welche Art von Versorgung der Anrufer braucht und wo er sie dann anschließend bekommt“, mahnt Walcher. „Aktuell gehen wir davon aus, dass in fünf bis zehn Prozent der Fälle eine Fehlzuweisung erfolgt.“

Die Regierungskommission für die Krankenhausversorgung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) arbeitet bereits an Vorschlägen für eine Reform der Notfallversorgung. „Wir brauchen möglichst zeitnah konkrete Schritte,“ fordert Walcher.

Um der wachsenden Gewalt zu begegnen, verlangt DGK-Chef Gaß jedoch auch rechtliche Schritte: Mit der Strafverschärfung für Übergriffe auf Sanitäter sei die Politik schon einen richtigen Weg gegangen. „Wir wünschen uns aber, dass auch Gewalt gegen Pflegekräfte, Ärzte und andere Krankenhausmitarbeiter schärfer bestraft und Angriffen auf Vollzugspersonen gleichgestellt wird.“

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