Berlin. EU-Justizkommissar Reynders exklusiv über Strafverfolgung von Gräueltaten, Oligarchen-Gelder, erste Prozesse. Trifft es auch Putin?

EU-Justizkommissar Didier Reynders hält wegen des Ukraine-Kriegs auch eine Anklage gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin vor einem internationalen Gericht für möglich. Es sei nicht seine Aufgabe, die Strafverfolgung von einzelnen Personen zu empfehlen, sagte der 64-jährige Belgier im Interview mit unserer Redaktion. „Aber wenn Strafverfolger auch an der höchsten Ebene ansetzen wollen, sollen sie es tun.“ Auch für Putin bestünde in einem solchen Fall lebenslang das Risiko, zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Reynders zeigte sich im Interview „ziemlich sicher“, dass die ersten Kriegsverbrecher-Prozesse vor dem Internationalen Strafgerichtshof gegen russische Täter noch in diesem Jahr beginnen. Die vom Westen eingefrorenen Vermögen des russischen Staates und von Oligarchen können nach seiner Einschätzung bei der Finanzierung des Wiederaufbaus in der Ukraine helfen. So könne der Westen 300 Milliarden Euro aus Devisenreserven der russischen Zentralbank so lange als Garantie behalten, „bis Russland sich freiwillig am Wiederaufbau der Ukraine beteiligt.“ Das Interview im Wortlaut:

Herr Kommissar, Sie haben vor kurzem die Ukraine besucht, waren in der zerstörten Stadt Borodyanka, wo die russischen Streitkräfte Gräueltaten an der Zivilbevölkerung begangen haben. Was haben Sie dort gelernt?

Didier Reynders: Der Besuch war erschütternd. Wir haben sehr klare Beweise für mögliche Kriegsverbrechen gesehen. Die ukrainischen Behörden haben Beweise zu mehr als 37000 Fällen gesammelt, Ermittlungen gibt es zunächst zu über 3200 solcher Kriegsverbrechen.

Braucht die Ukraine mehr Hilfe, um die Verbrechen aufzuklären?

Die EU unterstützt die Untersuchungen der ukrainischen Behörden von Beginn an. Eine Reihe von EU-Staaten, auch Deutschland, senden Experten. Wir stellen Ausrüstung und Technik zur Verfügung, die EU-Justizbehörde Eurojust kann jetzt Beweismittel aus der Ukraine aufbewahren und untersuchen lassen. Einige Mitgliedstaaten stellen auch dem Internationalen Strafgerichtshof ICC in Den Haag Ermittler zur Verfügung und bilden gemeinsam mit dem ICC eine Task Force.

Wann finden die ersten Prozesse am Strafgerichtshof statt?

Ich bin ziemlich sicher, dass Ende des Jahres die ersten Prozesse beginnen können. Das Gericht ist schon ziemlich weit, auch wenn es um sehr komplexe Fragen geht. Es ist aber sehr wichtig, dass die Ukraine den ICC-Vertrag ratifiziert. Dann ist es dem Strafgerichtshof möglich, vor Ort alle möglichen Kriegsverbrechen zu untersuchen, von beiden Seiten. Wobei es keine Anzeichen für Kriegsverbrechen der Ukraine gibt, der Aggressor ist ja Russland.

Die Ukraine fordert ein zusätzliches internationales Tribunal, damit auch das vom Kreml zu verantwortende Verbrechen eines Angriffskriegs verfolgt werden kann. Was halten Sie davon?

Wir diskutieren das mit der Ukraine. Ich möchte, dass wir zuerst alle vorhandenen Instrumente nutzen. Aber es wäre eine Möglichkeit, ein zusätzliches Gericht zu bilden mit ukrainischen und internationalen Richtern und der Unterstützung der Vereinten Nationen. Die EU-Kommission ist da offen. Möglicherweise sprechen die G7-Staaten im November darüber. Aber wichtig ist jetzt vor allem, Beweise für Verbrechen zu sammeln. Prozesse können auch Jahre später stattfinden, in Deutschland stehen bis heute Angeklagte wegen der Verbrechen des Nazi-Regimes vor Gericht.

In Butscha, einem Vorort der ukrainischen Hauptstadt Kiew, begingen russische Truppen besonders viele Gräueltaten an Zivilisten. Das Foto zeigt, wie im April Freiwillige die Leichen von in Butscha,getöteten Zivilisten auf einen Lastwagen laden, um sie zur Untersuchung in ein Leichenschauhaus zu bringen.
In Butscha, einem Vorort der ukrainischen Hauptstadt Kiew, begingen russische Truppen besonders viele Gräueltaten an Zivilisten. Das Foto zeigt, wie im April Freiwillige die Leichen von in Butscha,getöteten Zivilisten auf einen Lastwagen laden, um sie zur Untersuchung in ein Leichenschauhaus zu bringen. © dpa | Rodrigo Abd

Sollte auch Wladimir Putin vor Gericht gestellt werden?

Es ist nicht meine Aufgabe, die Strafverfolgung von einzelnen Personen zu empfehlen. Die EU stellt die Werkzeuge, damit die Justiz ihre Aufgabe erfüllen kann. Wenn Strafverfolger auch an der höchsten Ebene ansetzen wollen, sollen sie es tun. Eines ist klar: Die Aufklärung der russischen Kriegsverbrechen ist ein Signal an die ganze Welt. Zum ersten Mal werden solche Verbrechen vom ersten Tag des Krieges an untersucht. Für die Täter besteht für den Rest ihres Lebens das Risiko, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das gilt natürlich auch für Putin, wenn sich die Strafverfolgung auch auf ihn erstrecken sollte.

Wie zufrieden sind Sie mit der Wirkung der Sanktionen gegen Russland?

Wir haben schon acht Sanktionspakete. Wir untersuchen, was noch mehr getan werden kann. Ich bin zuständig für die Task Force zum Einfrieren der Vermögen von rund tausend russischen Oligarchen und Einrichtungen, die auf der Sanktionsliste der EU stehen. Bislang wurde das Vermögen von 90 Personen eingefroren, über 17 Milliarden Euro in 7 Mitgliedstaaten, davon 2,2 Milliarden Euro in Deutschland.

Es gibt Forderungen, dieses Geld für den Wiederaufbau der Ukraine zu nutzen. Eine gute Idee?

Wenn es sich um Geld aus kriminellen Geschäften handelt, das die EU beschlagnahmt, ist es möglich, es in einen Entschädigungsfonds für die Ukraine zu leiten. Allerdings reicht die Summe bei weitem nicht, um den Wiederaufbau zu finanzieren. Doch sind als Teil der westlichen Sanktionen auch 300 Milliarden Euro aus Devisenreserven der russischen Zentralbank eingefroren. Die Ukraine möchte auch dieses Geld für den Wiederaufbau verwenden. Aus meiner Sicht ist es zumindest möglich, diese 300 Milliarden Euro als Garantie zu behalten, bis Russland sich freiwillig am Wiederaufbau der Ukraine beteiligt.

Sie haben einen neuen Report zur Rechtsstaatlichkeit in den EU-Staaten erarbeitet. Wie ist die Lage in Deutschland?

Deutschland ist in derselben Kategorie wie viele andere Mitgliedstaaten: Wir haben hier keine systemischen, großen Probleme wie in Ungarn und Polen, sondern Beanstandungen in Einzelfragen. Was die Unabhängigkeit der Justiz angeht oder den Kampf gegen Korruption, ist das Ranking Deutschlands hoch. Aber einige Dinge können verbessert werden: Zum Beispiel bei der Digitalisierung der Justiz, bei der Rekrutierung und Bezahlung von Richtern, der zu intransparenten Mitarbeit von Lobbyisten an Gesetzen oder beim Wechsel von Politikern in die Privatwirtschaft. Wenn Regierungsmitglieder in die Wirtschaft gehen, sollte der Genehmigungsprozess dafür transparenter sein und die Wartezeit länger.

Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt