London. Nach wenigen Wochen im Amt und einer desaströsen Bilanz muss Liz Truss gehen. Im Land werden die Forderungen nach Neuwahlen lauter.

Am Schluss ging es ganz schnell. Noch am Mittwochnachmittag hatte Liz Truss beteuert: „Ich bin eine Kämpferin, nicht eine, die aufgibt!“ 24 Stunden später trat die Premierministerin ans Rednerpult vor ihrem Regierungssitz in der Downing Street und sagte: „Ich habe mit dem König gesprochen und ihm mitgeteilt, dass ich als Vorsitzende der Konservativen Partei zurücktrete.“ Damit endete die Ära Truss nach nur 45 Tagen – es ist mit Abstand die kürzeste Amtszeit in der britischen Geschichte.

Nicht nur für Liz Truss ist die Blamage total, sondern auch für die Konservative Partei. Die Tory-Fraktion plant, innerhalb einer Woche einen neuen Regierungschef zu bestimmen. Aber erstens ist fraglich, ob sie sich auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin einigen kann – und zweitens ist zweifelhaft, ob die Tories einen zweiten Regierungswechsel ohne Neuwahlen politisch durchsetzen können.

Truss-Rücktritt: Es begann mit dem Rücktritt der Innenministerin

Der Demission von Truss waren außergewöhnliche Szenen vorangegangen. Am Mittwoch Abend begann ein politisches Schauspiel, das selbst bei altgedienten Politikern und Journalisten für Sprachlosigkeit sorgte: Handgemenge und Geschrei im Parlament, gegenseitige Beschimpfungen, ein Abgeordneter, der sagte: „I don’t give a fuck anymore“ – es ist mir alles scheißegal. In Westminster schien endgültig die Anarchie ausgebrochen zu sein.

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Es begann am späten Mittwochnachmittag mit dem überraschenden Rücktritt von Innenministerin Suella Braverman. Offenbar war ein Streit um die Migration ausschlaggebend: Braverman hat die Reduktion der Einwanderung zu ihrer Priorität gemacht, während Truss einen allzu harten Kurs aus wirtschaftlichen Überlegungen zurückweist.

Truss: Premierministerin wollte Fracking fördern – ihrer Partei gefiel das nicht

In ihrem Rücktrittsschreiben hielt sich Braverman nicht zurück mit spitzen Worten: „Ich habe Bedenken bezüglich der Richtung, in die diese Regierung steuert“, schrieb sie. Unter Truss seien mehrere Wahlversprechen von 2019 gebrochen worden, nicht zuletzt bei der Frage der Bootsüberfahrten über den Kanal, die Braverman stoppen wollte. Dann schreibt sie, dass es keine „seriöse Politik“ sei, wenn man Fehler nicht eingesteht und hofft, dass sich die Dinge von allein zum Besten wenden würden – eine Anspielung auf die verzweifelten Versuche der Premierministerin, ihre unzähligen Fehltritte als Bagatellen abzutun und weiterzumachen, als sei nichts geschehen.

Doch das war nur der Anfang vom Chaos. Wenige Stunden später fand im Unterhaus eine von Labour erzwungene Abstimmung statt: Die Opposition stellte den Antrag, ein Fracking-Verbot auszurufen. Truss wollte diese höchst umstrittene Art der Erdgasgewinnung fördern, sorgte aber damit in den eigenen Reihen für Unmut. Mit der Abstimmung wollte Labour die Spaltung innerhalb der Regierungspartei weiter vertiefen.

Großbritannien: Tränen und Handgreiflichkeiten – Chaos bei Abstimmung

Das Kalkül ging auf: Als das Unterhaus am Abend zur Abstimmung überging, brach die Disziplin endgültig zusammen. Augenzeugen berichten, dass Handgemenge ausgebrochen seien, als manche Tories versuchten, ihre Kollegen in einen bestimmten Raum zu zerren – im britischen Unterhaus wird jeweils abgestimmt, indem die Abgeordneten entweder den „Ja“- oder den „Nein“-Saal betreten. Manche Abgeordnete seien in Tränen ausgebrochen, andere hätten sich gegenseitig angeschrien. „So etwas habe ich noch nie gesehen“, sagte Kirsty Buchanan, ehemalige Beraterin von Liz Truss, am Tag danach.

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So schien die Regierung am Donnerstagmorgen kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Immer mehr Tory-Politiker kamen aus der Deckung und forderten offen den Rücktritt von Truss. So bestellte die Premierministerin Graham Brady zu sich, den Vorsitzenden des einflussreichen 1922-Komitees. Sie wolle herausfinden, wie die Stimmung innerhalb der Fraktion sei, hieß es. Und offensichtlich machte ihr Brady unmissverständlich klar, dass die Zeit um war. Eineinhalb Stunden später trat Truss vor die Presse und gab ihren Rücktritt bekannt.

Truss tritt zurück: Tory-Politiker fordert raschen Nachfolger

Jetzt wollen die Tories innerhalb nur einer Woche einen neuen Premierminister bestimmen. Die Partei wird wohl versuchen, sich auf einen „Einheitskandidaten“ zu einigen. Das dürfte jedoch nicht ganz einfach werden. Denn die Spaltungen innerhalb der Partei sind tief, und sie sind in den letzten Wochen immer stärker zum Vorschein gekommen.

„Ich erwarte, dass wir einen schnellen Prozess zur Ernennung eines neuen Premierministers haben werden“, sagte der britische Staatsminister für Europa und Tory-Parlamentsabgeordneter, Leo Docherty, unserer Redaktion. „Ich hoffe, dass dies in den nächsten Tagen passieren wird.“ Das Land bauche jetzt einen schnellen Übergang ebenso wie Kontinuität. Truss’ Rücktritt sei unvermeidbar gewesen, sie habe das Vertrauen zu vieler Fraktionsmitglieder verloren. Docherty gibt sich aber optimistisch: „Das politische System Großbritanniens ist robust, unsere Institutionen sind weiter intakt.“

Wer folgt auf Truss? Ex-ex-Premier Johnson will sich wohl zur Wahl stellen

Viele Politiker, denen man Ambitionen aufs höchste Amt nachgesagt hat, haben bereits bekannt gemacht, dass sie nicht antreten würden, darunter Finanzminister Jeremy Hunt. Boris Johnson hingegen, der erst im September geschasst wurde, will sich Gerüchten zufolge zur Wahl stellen – aber er ist nicht unbedingt jemand, der die Partei zusammenbringen kann.

Dazu kommt noch ein anderes Problem. Laut Verfassung ist es zwar zulässig, dass die Tories zum zweiten Mal einen Premierminister bestimmen, der nicht vom Volk gewählt wurde. Aber in politischer Hinsicht ist die Situation weniger klar: Der Druck, Neuwahlen abzuhalten, um einen Ausweg aus dem Chaos zu finden, wird in den kommenden Tagen zunehmen. Labour, die Liberaldemokraten, die Grüne Partei sowie die Schottische Nationalpartei SNP haben sich bereits dieser Forderung angeschlossen. „Die Situation ist jetzt jenseits der Parodie“, sagte die SNP-Chefin Nicola Sturgon. „Neuwahlen sind jetzt ein demokratischer Imperativ.“ Viele Briten dürften es ähnlich sehen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.