Berlin. Experten halten es für riskant, über die Festtage Corona-Kontaktverbote zu lockern. Könnte Weihnachten zum Superspreading-Event werden?

Für die Kanzlerin war ihr Auftritt im Bundestag ein Spagat. Es ist kein Geheimnis, dass Angela Merkel im stundenlangen Gefeilsche mit den Ministerpräsidenten lieber noch härtere Kontaktbeschränkungen verfügt hätte, um Corona im Dezember möglichst kleinzukriegen. Am Ende stand ein Kompromiss – so ist das Wesen der Demokratie und des Föderalismus.

Der Teil-Lockdown wird bis zum 20. Dezember verschärft fortgesetzt, pausiert dann aber zumindest im Privaten. Über Weihnachten und an Silvester dürfen sich dann nicht mehr nur fünf Personen, sondern bis zu zehn Personen aus verschiedenen Haushalten treffen, Kinder zählen in der Rechnung nicht mit. In Berlin allerdings, wo die Infektionszahlen weiterhin sehr hoch sind, soll es allerdings keine Lockerungen geben.

So klang die Botschaft von Merkels Regierungserklärung am Mittwoch etwas paradox. Lockerungen vor dem 20. Dezember „wären nicht verantwortbar“, sagte sie. Aber über die Festtage bis längstens 1. Januar sind sie es?

Bei Merkel war herauszuhören, dass sie jedem empfiehlt, die Zehn-Personen-Regel nicht auszureizen. Jeder überflüssige Kontakt sei zu vermeiden: „Wir sind nicht machtlos.“ Und ein bisschen Hoffnung verbreitete die Kanzlerin: Möglicherweise würden vor Weihnachten erste Impfstoffe ausgeliefert.

Einige Experten halten die kleinen Auszeiten vom Lockdown-System für keine gute Idee. Sie warnen davor, das mühsam und teuer erkaufte Abbremsen der Infektionswelle leichtfertig zu verspielen.

Warum sind Kontakte zu Weihnachten riskant?

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnt vor einem „Kickstarter“ für die Pandemie. Der Unmut der Bürger über die Einschränkungen werde täglich größer – daher sei das Signal der Politik emotional verständlich.

Sollte es bis Weihnachten jedoch keine deutliche Absenkung des Infektionsgeschehens geben, „müssen wir darüber diskutieren, ob tatsächlich für die gesamte Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr die Lockerungen gelten können“, sagte Lauterbach unserer Redaktion. „Wir können uns nicht leisten, eine dritte Welle auszulösen.“

Auch dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, Bernd Salzberger , ist mulmig zumute. Die Feiertage seien traditionell ein Treiber für die Influenza-Ausbreitung, sagte der Infektiologe vom Uniklinikum Regensburg. „Die Leute reisen durch das ganze Bundesgebiet, mischen sich überall, man trifft in der Kneipe seine alten Klassenkameraden. Wenn wir Pech haben, könnte das mit Corona ähnlich sein.“

Merkel und die Länder haben sich eine Hintertür offen gehalten. Um den 15. Dezember herum wollen sie wieder reden und prüfen, wo das Land bei R-Wert, Sieben-Tage-Inzidenzen, Intensivbettenbelegung und anderen Faktoren steht. Sehen die nicht gut aus, wären Verschärfungen nicht ausgeschlossen.

Berlin und 62 Landkreise reißen derzeit sogar die 200er-Infektionsmarke je 100.000 Einwohner (Merkel will unter 50 schaffen). Kommen die Regionen von dem Niveau nicht zügig runter, könnte dort wohl kein Landrat oder Bürgermeister private Mini-Partys zulassen.

Als erstes Bundesland scherte Berlin gestern am Donnerstag aus. Wie der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) mitteilte, werden die verabredeten Lockerungen über die Feiertage in der Hauptstadt nicht gelten.

Ist die Bahn für Fahrgastmassen vor Weihnachten gerüstet?

Der Staatskonzern soll seine Sitzplatzkapazitäten im Dezember um etwa zehn Prozent erhöhen. Durch freie Sitze soll Abstand gewährleistet sein. Die Maskenpflicht wird schärfer kontrolliert. Der Fahrgastverband Pro Bahn befürwortete diese Beschlüsse. Ein Sprecher betonte, die Bahn sollte zusätzliche Züge einsetzen. Für Zugverbindungen an begehrten Reisetagen vor und nach dem Fest sollte eine Reservierungspflicht eingeführt werden.

Generell sei das für den Fernverkehr aber nicht sinnvoll, weil viele Reisende auf den Regionalverkehr umstiegen, „der dann noch voller wird als er in Stoßzeiten ohnehin schon ist. Das kann in der Pandemie keine Lösung sein.“ Über Weihnachten und Neujahr seien übervolle Züge aber kaum zu erwarten . Hotels sind zu, ein Großteil der Urlaubsreisenden fällt weg. Wer Angehörige und Freunde besucht, nimmt im Corona-Winter wohl eher ein Auto.

Können Weihnachtsmessen sicher stattfinden?

Für viele Gläubige ist Weihnachten ohne Christmette nicht komplett. Bund und Länder wollen mit den Religionsgemeinschaften beim Infektionsschutz beraten. Die Krux ist, dass am Tisch just die Vertreter der Freikirchen fehlen. Die großen Kirchen beteuern, dass ihre Gemeinden vorbereitet sind und sich mit den Gesundheitsämtern abstimmen.

Prälat Martin Dutzmann , Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, weiß von vielen Formaten: „Häufigere, aber kürzere Gottesdienste, darunter viele unter freiem Himmel, und darüber hinaus natürlich zahlreiche Fernseh- und Online-Gottesdienste.“ Für Open Air haben sie den Segen der Pfarrerstochter im Kanzleramt. „Alles, was im Freien passiert“, befand Merkel, „ist immer besser als das, was bei gleichen Abstandsregeln im Inneren eines Raumes passiert.“

Nach und nach haben auch die 27 katholischen Bistümer eine Öffnung der Kirchen beschlossen – mit umfangreichen Hygienekonzepten, erläutert der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp. Dazu gehörten Abstandsregeln, weniger und vorgegebene Sitzplätze oder leere Weihwasserbecken. Gesangsbücher werden am Sitzplatz zurückgelassen und desinfiziert.

Protestant Dutzmann beteuert, es werde notiert, wer im Gottesdienst war, um Kontakte nachzuverfolgen. „Wir haben seit Anfang Mai keine Rückmeldung, dass sich jemand in einem unserer Gottesdienste infiziert hätte.“

Ein Gottesdienstbesuch ist nach Einschätzung des Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler , „relativ sorglos“ möglich. Mittlerweile gebe es sehr gute Konzepte, sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur. Dagegen seien „Gedränge und Gesang oder Blasinstrumente leider ein optimaler Verbreitungsweg für das Virus“.

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