Berlin. Pflegekräften aus Bulgarien oder Polen steht jetzt Mindestlohn zu. Warum das Urteil auch Probleme schafft, kommentiert Gudrun Büscher.

Anfangs sind es nur kleine Zeichen, die den Kindern deutlich machen, dass die Eltern alt geworden sind. Das Aufstehen fällt schwer, das Laufen sowieso, sie brauchen immer mehr Unterstützung im Alltag. Von Pflege wollen sie nichts wissen.

Als erster Schritt kommt meist eine Haushaltshilfe, dann der ambulante Pflegedienst. Wenn Mutter oder Vater trotzdem nicht mehr allein bleiben können, müssen andere Lösungen her: Aber ins Heim? Das wollen sie auf keinen Fall. Bei den Nachbarn pflegte eine Litauerin die Oma. Ist das ein Weg? Oder ist das Ausbeutung?

Gudrun Büscher, Politik-Korrespondentin.
Gudrun Büscher, Politik-Korrespondentin. © Reto Klar | Reto Klar

Frauen aus osteuropäischen Ländern sind inzwischen zu einer tragenden Säule der häuslichen Pflege in Deutschland geworden. Anfangs kamen die meisten von ihnen aus Polen, heute sitzen in den Kleinbussen, die die Frauen durch halb Europa karren, oft Bulgarinnen, Rumäninnen oder Ukrainerinnen.

Polen ist zu teuer geworden. Denn je größer das Lohngefälle, desto eher rentiert es sich – für beide Seiten.

Nicht selten sind die Pflegekräfte aus osteuropäischen Ländern bestens ausgebildet, sind Lehrerinnen oder Sozialarbeiterinnen. Sie verdienen in ihrem Beruf zu Hause aber so schlecht oder finden keine entsprechende Stelle, dass die Pflege im Ausland – zumindest für ein paar Jahre – lukrativ ist. Das macht so die Bewertung im Einzelfall oft schwieriger als man denkt.

Das Urteil ist für viele Familien eine Katastrophe

Ja, das Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts war überfällig. Auch diesen Frauen steht der Mindestlohn zu, der in Deutschland gezahlt werden muss. Und das nicht nur für ihre tatsächliche Arbeitszeit, sondern auch für die Bereitschaftszeit.

Das bedeutet: Auch für die Zeit, in der die Zimmertür (selbst nachts) offen bleibt, damit die Pflegerinnen die Rufe ihrer Patientinnen oder Patienten hören können, muss Mindestlohn gezahlt werden. Also immer. Und auch wenn sich die Branche gegen diesen Begriff der 24-Stunden-Pflege wehrt, läuft es genau darauf hinaus, je pflegebedürftiger der Mensch wird.

Für die Familien, die derzeit auf die Hilfe dieser Frauen zurückgreifen, ist das Urteil allerdings eine Katastrophe. Wenn die Rund-um-die-Uhr-Pflege nur noch mit Mindestlohn legal ist, wird sie für die meisten Menschen unbezahlbar, wird sie unter Umständen viel teurer als die Unterbringung in einem Pflegeheim.

Auch dort ist der Mangel groß: Es fehlen freie Plätze und Personal. Die Wartelisten sind lang. Und wer aus gutem Grund seine Lieben im häuslichen Umfeld, in der vertrauten Umgebung lassen möchte, der hat nun praktisch keinerlei Per­spektive.

Die Regierung hat eine Grauzone zugelassen

Experten schätzen, dass etwa 600.000 24-Stunden-Kräfte in deutschen Haushalten arbeiten. Genaue Zahlen gibt es nicht. Und das sagt eigentlich schon alles bei einem eher überregulierten Land, in dem selbst Limonadenkonsum statistisch erfasst wird. Das Urteil des höchsten deutschen Arbeitsgerichts ist eine Bankrotterklärung der Politik.

Jahrzehntelang haben die Regierungen über dieses Problem der alternden Gesellschaft hinweggesehen. Sie haben eine Grauzone zugelassen, sodass sich Familien – oft mit schlechtem Gewissen und Bauchschmerzen – selbst helfen mussten. Vermittler behalten oft mehr Geld ein, als sie den Pflegerinnen auszahlen. Die Frauen werden in vielen Fällen in einer rechtlosen Abhängigkeit gehalten. Auch das wurde billigend in Kauf genommen.

Es fehlt an bezahlbaren Lösungen für die häusliche Pflege. Gleichzeitig steigt die Zahl der pflegebedürftigen Menschen. Die Gefahr ist groß, dass nach dem Urteil von Erfurt aus der schon bisher kaum tragbaren Grauzone ein Schwarzmarkt wird, auf dem gar keine Rechte mehr gelten.