Berlin. Die Wahl in Thüringen hat für die FDP nicht nur ein politisches Nachspiel. Die Liberalen werden Opfer von Drohungen und Vandalismus.

In dem Moment, in dem die Stimmung kippt, nehmen die Demonstranten der Frankfurter FDP-Politikerin Katharina Schreiner das Mikrofon aus der Hand. Schreiner geht ein paar Schritte nach vorne, ruft den Menschen entgegen, dass für die FDP weder ein Ministerpräsident der AfD noch der Linkspartei infrage komme. Sie will gehört werden. Schreiner will ihre Meinung sagen. Doch ihre Stimme geht in den „Hau ab!“-Rufen der Protestler unter. Ein Video zeigt den Vorfall.

Es ist eine Szene in Deutschland, wie sie in diesen Tagen viele Politiker der Liberalen in Deutschland erleben. Sie werden beschimpft, einige sogar in Emails bedroht. Plakate der FDP beschmiert, Parteibüros attackiert. FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle nennt das einen „Generalangriff von radikalen Linken“ gegen die Partei.

Nach Wahl in Thüringen: Vandalismus und Übergriffe auf FDP

Es ist die Woche, nachdem sich Thüringens FDP-Mann Thomas Kemmerich von Stimmen der rechten AfD und der CDU zum Ministerpräsident wählen lässt. Am Abend der Wahl rufen verschiedenen Gruppen und Parteien zu Protesten in mehreren deutschen Städten auf. Schreiner geht zur Kundgebung in Frankfurt.

Eigentlich, so erzählt sie unserer Redaktion heute, habe sie sich nicht einmischen wollen. Aber dann sei ihre Partei beleidigt worden, es seien „falsche Tatsachen“ behauptet worden. Also greift FDP-Frau Schreiner zum Mikrofon der Demonstration.

Die Wut ist groß. Schon kurz nach der Wahl werfen Politiker der FDP einen „Tabubruch“ vor, sprechen von einem „Pakt mit den Faschisten“. „Rassisten würden hoffähig gemacht“, schallt der Partei die Kritik entgegen.

Kritik kommt auch aus Reihen der FDP

Die Kritik kommt nicht nur von links, auch in der Union und in der FDP selbst wächst der Protest angesichts der Ereignisse in Thüringen. Manche nennen die Wahl Kemmerichs mit Hilfe der AfD einen „Zivilisationsbruch“. An der Spitze der AfD-Thüringen steht Björn Höcke – eine Führungsfigur des völkisch-nationalistischen Flügels der Partei.

Kemmerich war anschließend massiv kritisiert worden, weil er die Wahl, die er ohne die Stimmen der AfD nicht gewonnen hätte, annahm. Er trat am Samstag zurück, ist aber aktuell noch geschäftsführend im Amt.

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Und linke Gruppen, aber auch Anhänger von Grünen und SPD, tragen ihren Protest gegen die Wahl des FDP-Politikers auf die Straße. Es sind Tausende, die friedlich demonstrieren.

Manche belassen es nicht bei lauten Rufen. „In Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen wurden Landesgeschäftsstellen mit Parolen beschmiert und beschädigt“, schreibt die Geschäftsstelle der Bundes-FDP auf Nachfrage unserer Redaktion. „Derzeit haben wir aber keinen Überblick über die Gesamtzahl der Vorfälle.“

FDP-Politikerin muss mit Tochter nach Angriff fliehen

Kemmerich selbst hat nach eigenen Angaben Drohungen erhalten, steht bereits unter Personenschutz. In Mecklenburg-Vorpommern wurde das Haus einer FDP-Politikerin mit Feuerwerkskörpern beschossen. Sie berichtet, dass sie gemeinsam mit ihrer Tochter aus dem Haus habe fliehen müssen.

In Hamburg ist Wahlkampf für die Bürgerschaftswahl in zwei Wochen. Dort berichtet der FDP-Fraktionschef Michael Kruse unserer Redaktion, er habe bereits rund 200 Wahlplakate einsammeln müssen. Drei Viertel sind demnach beschmiert, mit Hakenkreuzen, SS-Runen, Hitlerbart. Ein Viertel der Plakate sei zerstört. Auch andere FDP-Politiker im Hamburger Wahlkampf berichten von Vandalismus.

Attentate auf deutsche Politiker

Immer wieder erfolgen Angriffe auf Politiker. Mal lagen politische Motive zugrunde, mal waren die Täter psychisch gestört. Zuletzt attackierte ein offenbar alkoholisierter Mann den Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein (CDU).
Immer wieder erfolgen Angriffe auf Politiker. Mal lagen politische Motive zugrunde, mal waren die Täter psychisch gestört. Zuletzt attackierte ein offenbar alkoholisierter Mann den Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein (CDU). © dpa | Bernd Thissen
Laut Behörden ist die Tat politisch motiviert gewesen. Hollstein, der bei dem Messerangriff nicht lebensgefährlich verletzt wurde, gilt als besonders liberal in der Flüchtlingspolitik.
Laut Behörden ist die Tat politisch motiviert gewesen. Hollstein, der bei dem Messerangriff nicht lebensgefährlich verletzt wurde, gilt als besonders liberal in der Flüchtlingspolitik. © imago/Metodi Popow | imago stock&people
Auch die Bürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, wird am 17. Okober 2015 mit einem Messer angegriffen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte den Täter Frank S. später zu 14 Jahren Haft.
Auch die Bürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, wird am 17. Okober 2015 mit einem Messer angegriffen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte den Täter Frank S. später zu 14 Jahren Haft. © imago/Future Image | Christoph Hardt
Der 45-Jährige hatte Reker (parteilos) während ihres Wahlkampfes ein Jagdmesser in den Hals gerammt.
Der 45-Jährige hatte Reker (parteilos) während ihres Wahlkampfes ein Jagdmesser in den Hals gerammt. © imago/Horst Galuschka | Horst Galuschka
Ein geistig verwirrter Mann schießt bei einer Wahlkampfveranstaltung im badischen Oppenau im Oktober 1990 auf den Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU).
Ein geistig verwirrter Mann schießt bei einer Wahlkampfveranstaltung im badischen Oppenau im Oktober 1990 auf den Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). © imago/sepp spiegl | imago stock&people
Der CDU-Politiker sitzt seitdem querschnittsgelähmt im Rollstuhl – das Attentat überlebte er nur knapp.
Der CDU-Politiker sitzt seitdem querschnittsgelähmt im Rollstuhl – das Attentat überlebte er nur knapp. © imago/Gustavo Alabiso | imago stock&people
Zwei Tage vor der Bundestagswahl im September 2002 schlägt ein Rechtsextremist dem Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele (Grüne) an einem Berliner Wahlstand mit einem Schlagstock auf den Kopf.
Zwei Tage vor der Bundestagswahl im September 2002 schlägt ein Rechtsextremist dem Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele (Grüne) an einem Berliner Wahlstand mit einem Schlagstock auf den Kopf. © REUTERS | Tobias Schwarz
Hans-Christian Ströbele erlitt damals Verletzungen am Kopf, die Polizei konnte den Täter festnehmen.
Hans-Christian Ströbele erlitt damals Verletzungen am Kopf, die Polizei konnte den Täter festnehmen. © imago/Future Image | imago stock&people
Während einer Debatte auf einem grünen Sonderparteitag in Bielefeld wird der Außenminister Joschka Fischer im Mai 1999 mit einem Farbbeutel beworfen. Er erleidet einen Trommelfellriss.
Während einer Debatte auf einem grünen Sonderparteitag in Bielefeld wird der Außenminister Joschka Fischer im Mai 1999 mit einem Farbbeutel beworfen. Er erleidet einen Trommelfellriss. © imago | Sven Simon
Der Farbbeutel-Werfer wollte damit gegen den Kosovo-Einsatz der Nato protestieren, den die Grünen billigten.
Der Farbbeutel-Werfer wollte damit gegen den Kosovo-Einsatz der Nato protestieren, den die Grünen billigten. © imago/Mauersberger | imago stock&people
In Berlin schlagen Vermummte den Regierenden Bürgermeister Walter Momper im August 1991 mit einem Holzknüppel und sprühen ihm Reizgas ins Gesicht.
In Berlin schlagen Vermummte den Regierenden Bürgermeister Walter Momper im August 1991 mit einem Holzknüppel und sprühen ihm Reizgas ins Gesicht. © imago/Rainer Unkel | imago stock&people
Zuvor hatte Momper gemeinsam mit seiner Frau eine Ausstellung besucht. Auf dem Rückweg schlugen die Täter zu. Die Narbe auf seiner Stirn erinnert nach wie vor an die Attacke der fünf Vermummten.
Zuvor hatte Momper gemeinsam mit seiner Frau eine Ausstellung besucht. Auf dem Rückweg schlugen die Täter zu. Die Narbe auf seiner Stirn erinnert nach wie vor an die Attacke der fünf Vermummten. © imago | Christian Schroth
Ein Unbekannter greift die Parlamentarierin Angelika Beer (Grüne) in Berlin im Juni 2000 mit einem Messer an und verletzt sie am Arm.
Ein Unbekannter greift die Parlamentarierin Angelika Beer (Grüne) in Berlin im Juni 2000 mit einem Messer an und verletzt sie am Arm. © imago | Sven Simon
Sie hatte zuvor mehrere Morddrohungen erhalten. Die Drohungen stammten vor allem aus der linksextremen Szene, weil Beer den Nato-Angriffen auf Jugoslawien zugestimmt hatte.
Sie hatte zuvor mehrere Morddrohungen erhalten. Die Drohungen stammten vor allem aus der linksextremen Szene, weil Beer den Nato-Angriffen auf Jugoslawien zugestimmt hatte. © imago/Christian Ditsch | imago stock&people
Eine geistig verwirrte Frau verletzt den Hamburger Justizsenator Roger Kusch (CDU) bei einem Wahlkampfauftritt im Februar 2004 mit einem Messer.
Eine geistig verwirrte Frau verletzt den Hamburger Justizsenator Roger Kusch (CDU) bei einem Wahlkampfauftritt im Februar 2004 mit einem Messer. © imago stock&people | imago stock&people
Die Frau ging mit den Worten „Du schwule Sau“ auf den Politiker zu und griff ihn mit einem Klappmesser an. Später kam sie in die Psychiatrie.
Die Frau ging mit den Worten „Du schwule Sau“ auf den Politiker zu und griff ihn mit einem Klappmesser an. Später kam sie in die Psychiatrie. © imago | Sven Simon
Eine ebenfalls geistig verwirrte Frau greift den damaligen saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine und Kanzlerkandidaten (damals SPD) im April 1990 auf einer Wahlkampfveranstaltung in Köln mit einem Messer an.
Eine ebenfalls geistig verwirrte Frau greift den damaligen saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine und Kanzlerkandidaten (damals SPD) im April 1990 auf einer Wahlkampfveranstaltung in Köln mit einem Messer an. © imago/Becker&Bredel | BeckerBredel
Sie verletzt ihn lebensgefährlich und verfehlte die Halsschlagader nur knapp. Mehr als 25 Jahre später ist die Attentäterin Adelheid S. wieder aus der Psychiatrie entlassen und auf freiem Fuß.
Sie verletzt ihn lebensgefährlich und verfehlte die Halsschlagader nur knapp. Mehr als 25 Jahre später ist die Attentäterin Adelheid S. wieder aus der Psychiatrie entlassen und auf freiem Fuß. © dpa Picture-Alliance / DB
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Die Übergriffe und Drohungen seien „anti-demokratisch“, sagt FDP-Politiker Kuhle. Sein Parteikollege, der Bundestagsabgeordnete Benjamin Strasser, sieht es ähnlich: „Das Vorgehen in Thüringen war ein Fehler, den wir aber umgehend korrigiert haben. Wenn es nun zu Anschlägen auf Geschäftsstellen und Gewalt gegen FDP-Mitglieder kommt, werden rote Linien überschritten.“

In Frankfurt, bei der Demonstration der antifaschistischen Gruppen, war gemeinsam mit FDP-Frau Schreiner auch ihr Parteikollege Michael Rubin. Er filmte die Szene mit den „Hau ab!“-Rufen mit seinem Handy. Dann zog er weiter zu einer Kundgebung, zu der auch die Grünen aufgerufen hatten.

Jüdischer FDP-Politiker als „Nazi“ beschimpft

Dort sei er dann im Nachgang der Demonstration beschimpft worden. Einige Teilnehmer hätten ihn dort wiedererkannt. Sie riefen: „Nazi!“. So schildert es Rubin. Er, selbst Jude, solle ein „Nazi“ sein. Er sei schockiert gewesen, berichtet der FDP-Politiker im Gespräch mit unserer Redaktion.

Auf Facebook schreibt Rubin noch in der Nacht: „Meine Eltern haben den Holocaust überlebt, viele Familienmitglieder wurden in KZ von Nazis vernichtet oder sind auf den Kriegsfeldern gefallen.“ Für ihn gebe es nichts Schlimmeres als „Nazi“ genannt zu werden.

Die Causa Thüringen habe der FDP geschadet – das sagen selbst FDP-Leute. Und auch Umfragen belegen das: Der Wert der Bundes-FDP fiel um fünf Prozentpunkte auf fünf Prozent, ergab die Erhebung des Umfrageinstituts Forsa.

FDP-Politiker im Wahlkampf wollen sich nicht entmutigen lassen

An den Infoständen im Wahlkampf gebe es jedoch auch andere Stimmen, berichtet Hamburgs FDP-Mann Kruse. „Die Art und Weise, wie Wahlplakate beschmiert und unsere Kandidaten beschimpft werden, verurteilen viele“, sagt er. Kruse will sich nicht entmutigen lassen, will auch die positiven Momente nach der Woche des Eklats in Thüringen hervorheben.

Das macht auch der Pressesprecher der Berliner FDP. Auf Twitter berichtet er, dass gerade ein „junger Mann die Tür zur Landesgeschäftsstelle“ geöffnet habe und gesagt habe: „Ich finde ihr seid keine Nazis“. Der Sprecher schreibt: „Das war… nett.“

Thüringen – mehr zum Thema:

Bei „Anne Will“ wurde der Tabubruch von Erfurt thematisiert. Dabei sorgte vor allem AfD-Fraktionschefin Alice Weidel mit ihrem Verhalten für große Irritation. In der Thüringen-Krise hält die CDU zu AfD und Linken die gleiche Distanz. Das ist politisch zu kurz gedacht – und realitätsfremd. Noch ist unklar, wie es in Thüringen weitergeht. Der frühere Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) strebt weiterhin seine Wiederwahl an. (gem/dpa/afp)