Tel Aviv. Rund 20.000 Menschen in Gaza mussten ihre Häuser verlassen. Im Konflikt in Nahost ist auch am Wochenende weiter kein Ende in Sicht.

Es war die fünfte Nacht, wieder wurden die Menschen in Israel und Gaza aus dem Schlaf gerissen, gezwungen, Zuflucht zu suchen. In Israel waren es die Bürger in den Städten des Südens, in Gaza vor allem die Bewohner im nördlichen Teil des Streifens. Während die Israelis zumeist nach der Entwarnung wieder in ihre Häuser zurückkehren können, um dort jederzeit mit dem nächsten Raketenalarm rechnen zu müssen, haben in Gaza viele Menschen ihre Häuser verloren.


Rund 20.000 Menschen im Gazastreifen sahen sich gezwungen, in den ersten fünf Tagen des militärischen Konflikts ihre Häuser zu verlassen, schätzt UNRWA, das UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästina.

Nahost-Konflikt: Bevölkerung von zwei Seiten gefährdet

Ein Vertreter einer anderen Hilfsorganisation erklärt, dass nicht alle von ihnen obdachlos sind, einige seien aus Angst vor drohenden Angriffen geflohen. Insgesamt 36 Schulen der UNRWA wurden in Notquartiere umgewandelt, um die Binnenflüchtlinge zu beherbergen. In den Schulen gibt es Nahrung und medizinische Versorgung, die im Gazastreifen weiter grassierende COVID-19-Epidemie drohe in den überfüllten Notquartieren aber zum Problem zu werden sagt ein UNRWA-Sprecher. „Wir tun unser Bestes.“


Für die Betroffenen sei es jetzt vor allem wichtig, sich geschützt vor Bombardements zu fühlen. Das Hilfswerk hat über GPS-Daten die exakte Lage dieser Schulen an Israel übermittelt, damit sie bei den Bombardements möglichst verschont werden.
Die Bevölkerung ist von zwei Seiten aus gefährdet: Einerseits durch die Vergeltungsschläge der israelischen Armee nach den Angriffen der Hamas auf Ziele in Israel - andererseits aber auch durch fehlgezündete Raketen der Hamas. Laut israelischen Schätzungen sind bisher über 300 Raketen der Terrororganisationen auf dem Gebiet des Gazastreifens abgegangen.

Lesen Sie auch das Newsblog: Nahost: Israels Luftwaffe zerstört Medienbüros in Gaza


Für die Menschen sei die Situation extrem belastend, sagt der Arzt Yasser Abu Jamei, Leiter des Gaza Community Centers für seelische Gesundheit. Viele Bewohner des Gazastreifens seien noch vom letzten Krieg im Jahr 2014 traumatisiert, die aktuelle Eskalation „weckt schlimme Erinnerungen”, sagt er - auch wenn es diesmal bislang mit keiner Bodenoffensive seitens Israel verbunden ist. Erwachsene leiden unter Panikattacken und psychosomatischen Beschwerden, Kinder würden zu Bettnässen beginnen.

Israel erhebt schwere Vorwürfe


Die Eskalation erschwere auch die im abgeriegelten Gazastreifen ohnehin schwierige Versorgungslage mit lebenswichtigen Gütern. In manchen Gebieten sei die Trinkwasserversorgung unterbrochen, im ganzen Gazastreifen gebe es mehrere Stunden pro Tag keinen Strom, berichtet das UN-Hilfswerk OCHA.


Die aktuelle Lage wird in der niederländischen Stadt Den Haag derzeit genau beobachtet. „Wir schauen uns das mit großer Ernsthaftigkeit an”, sagte Fatou Bensouda, Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Die Ankläger des Gerichtshofs ermitteln derzeit gegen Israel und Hamas, sie werfen beiden Seiten mutmaßliche Kriegsverbrechen im letzten Gazakrieg 2014 vor und haben auch den aktuellen Konflikt im Blick. Auch die Frage, ob die islamistischen Terrorgruppen sogenannte menschliche Schutzschilder einsetzen, spielt dabei eine wichtige Rolle.

Israel zerstört Hochhaus in Gaza - internationale Medien betroffen.
Israel zerstört Hochhaus in Gaza - internationale Medien betroffen.

Lesen Sie auch: Wer steckt hinter dem Hass gegen Juden in Deutschland?


Israel erhebt diesen Vorwurf regelmäßig, wenn die Armee wegen der Bombardierung ziviler Ziele kritisiert wird. So auch am Samstag, nachdem in den sozialen Medien Kritik an der Tötung von Zivilisten im Flüchtlingslager Al-Shati im Norden des Gazastreifens aufgekommen war.

Laut israelischer Armee richtete sich der Beschuss gegen mehrere Führungsfiguren der Terrorgruppen, die sich einen Stützpunkt in einer Wohnung im Al Shati-Camp eingerichtet hatten. „Hamas benützt Zivilisten absichtlich, um sich hinter ihnen zu verstecken und ihre Aktivitäten zu verbergen”, erklärte die Armee am Samstag.
„Die Terroristen errichten ihre Infrastruktur unter Schulen, Spitälern und Moscheen”, sagt ein Sprecher der israelischen Streitkräfte.

Im letzten Gazakrieg identifizierte die israelische Armee zahlreiche Raketen-Abschussanlagen auf sensiblem Gebiet, also beispielsweise auf dem Areal eines Krankenhauses.
Es sei daher in manchen Fällen unvermeidlich, auch zivile Einrichtungen zu zerstören, wenn man die Hamas und die Terrororganisation Islamischer Dschihad militärisch schwächen wolle. Man versuche dies aber weitestmöglich zu vermeiden, sagt der Armeesprecher.

Amnesty International übt Kritik

Nicht nur die UNRWA-Schulen, auch andere „sensible Einrichtungen” seien auf den Karten der Kampfpiloten eingezeichnet. Wird ein Hochhaus bombardiert, verständige man die Bewohner zuvor per Telefon oder per „Dachklopfen”, also dem Abwurf nicht-explosiver Munition, damit die Zivilisten das Gebäude rechtzeitig verlassen. Amnesty International kritisierte das Dachklopfen als ineffizient oder sogar schädlich, da Menschen durch die Warnabwürfe verletzt werden könnten.

Israels Luftwaffe zerstörte am Samstag nach Angaben mehrere Medien ein 14-stöckiges Hochhaus im Gazastreifen, in dem Medienunternehmen wie Associated Press ihre Büros hatten. Berichten zufolge wurden die Bewohner zuvor telefonisch aufgefordert, das Gebäude zu verlassen.


Eine in Gaza lebende Publizistin, die anonym bleiben möchte, hält die „menschlichen Schutzschilder” für ein vorgeschobenes Argument. Die Hamas verstecke sich nicht gezielt hinter Zivilisten, meint sie. Der Gazastreifen sei einfach dermaßen dicht besiedelt, dass sich die Einrichtungen der Hamas zwangsläufig unweit von Wohnhäusern oder zivilen Einrichtungen befinden.


Dieses Argument lässt Itai Brun, Experte für Militärstrategie im Institut für Nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv, nicht gelten. Sich hinter Zivilisten zu verstecken sei „eine typische Strategie von Terrororganisationen”, sagt er. Die Hamas hätte sehr wohl eine Möglichkeit, Militärbasen außerhalb der bewohnten Gebiete zu errichten. „Sie tun es aber nicht, weil sie dann weniger gut geschützt sind.” Dass die dichte Besiedlung ein Scheinargument sei, erkenne man auch daran, dass die Terrororganisation Hisbollah im Libanon dieselbe Taktik anwende. Der Libanon sei aber weniger dicht besiedelt als der Gazastreifen.


Die Menschen in Gaza würden derzeit vor allem ein Ende der Kämpfe herbeisehnen, sagt der Arzt Abu Jamei. „Sie hoffen stark auf eine Waffenruhe. Leider wurden sie bis jetzt enttäuscht.”
Die USA bemühen sich um eine rasche Deeskalation. Wie die US-Botschaft in Israel am Freitagabend mitteilte, landete der Spitzendiplomat Hady Amr auf dem Flughafen Tel Aviv. Er soll nun Vertreter beider Seiten treffen, um mögliche Bedingungen für eine Waffenruhe zu diskutieren.