Berlin. Wenn Extremisten an Orten arbeiten, wo sie Zugang zu sensiblen Daten und Waffen haben, ist das problematisch. Auch “Reichsbürger“, die für einen Staat arbeiten, den sie nicht anerkennen, sollte es aus Sicht der Verantwortlichen nicht geben.

Unter den Bediensteten der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern sind innerhalb von drei Jahren 327 Mitarbeiter aufgefallen, die nachweislich Bezüge zum Rechtsextremismus oder zur Szene der sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter haben.

Das geht aus dem zweiten Lagebericht zu "Rechtsextremisten in den Sicherheitsbehörden" hervor, den das Bundesinnenministerium am Freitag in Berlin veröffentlicht hat.

Der Bericht sei nicht nur das Ergebnis von Meldungen durch die einzelnen Behörden, betont der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang. Vielmehr seien dafür auch Erkenntnisse des Verfassungsschutzes über Extremisten in anderen Sicherheitsbehörden genutzt worden.

Die Probleme lassen sich nicht intern lösen

Dass jetzt mehr Verfassungsfeinde aufgefallen sind als bei einer ersten Untersuchung 2020 führt Haldenwang unter anderem auf eine verbesserte Methodik, Schulungen und andere Maßnahmen zur Sensibilisierung von Vorgesetzten zurück, sowie die Anwendung eines einheitlichen Fragebogens, auch bei der Bundeswehr. Außerdem wurden diesmal zusätzlich Daten zu "Reichsbürgern" abgefragt. Der Chef des Inlandsgeheimdienstes betont: "Mit diesem Missverständnis, man könne solche Probleme in den eigenen Reihen irgendwie regeln, ist gründlich aufgeräumt worden."

Der Lagebericht betrachtet den Zeitraum vom 1. Juli 2018 bis zum 30. Juni 2021. Beobachtet wurde bei den auffälligen Mitarbeitern beispielsweise die Teilnahme an extremistischen Veranstaltungen, Kontakte zu extremistischen Parteien oder "Heil-Hitler"-Rufe.

Auch wenn einige Akteure gemeinsam in Chatgruppen aktiv waren, in denen rechtsextremistische Inhalte geteilt wurden, liefert der Bericht keinen Hinweis auf ein überregionales Netzwerk von Extremisten verschiedener Sicherheitsbehörden. Was dem Verfassungsschutz allerdings auffiel, sind zahlreiche Kontakte von als Rechtsextremisten eingestuften Mitarbeitern zu extremistischen Akteuren und Parteien sowie zu Organisationen der Hooligan- und Kampfsportszene. Dieser Befund sei "erschreckend", sagt Haldenwang.

Jeder Fall muss klare Konsequenzen haben

Insgesamt sind die Aktivitäten von insgesamt 860 Bediensteten betrachtet worden. Im Berichtszeitraum wurden 500 arbeits- und disziplinarrechtliche Maßnahmen eingeleitet. In 38 Prozent der bewerteten Fälle lagen die Voraussetzungen für eine weitere nachrichtendienstliche Bearbeitung vor. Aus den Bundesbehörden wurden drei Mitarbeiter entlassen oder nicht in das Beamtenverhältnis ernannt. Aus den Landesbehörden mussten 57 Bedienstete gehen.

Die ganz überwiegende Mehrzahl der Angehörigen des öffentlichen Dienstes stehe fest auf dem Boden des Grundgesetzes, betont Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Damit ihr Ruf nicht unter wenigen Extremisten leide, müsse jeder Extremismusfall klare Konsequenzen haben. Bund und Länder sollten alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um Verfassungsfeinde schneller als bisher loszuwerden – und dort, wo es nötig sei, die rechtlichen Instrumente nachschärfen. "Einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesdisziplinargesetzes werde ich noch in diesem Jahr vorlegen", kündigt Faeser an. Es sei unbefriedigend, dass sich die Verfahren in der Regel über mehrere Jahre hinzögen.

Im Geschäftsbereich des Militärischen Abschirmdienstes, der rund 242.000 Soldaten der Bundeswehr und Zivilbeschäftigte umfasst, wurden 83 Rechtsextremisten festgestellt. Bei der Bundespolizei mit ihren heute mehr als 54.000 Mitarbeitern fielen 18 Rechtsextremisten auf. Beim Zoll waren es laut Bericht vier rechtsextremistische Mitarbeiter, beim Bundeskriminalamt zwei, beim Bundesamt für Verfassungsschutz, dem Bundesnachrichtendienst und der Bundestagspolizei war es jeweils ein Mitarbeiter.

Rund 19.000 "Reichsbürger"

Hinzu kommen insgesamt 30 Verdachtsfälle und erwiesene Fälle von Bediensteten der Sicherheitsbehörden des Bundes, die der Szene der "Reichsbürger" und Selbstverwalter zugerechnet werden. Die sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter zweifeln die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland an. Sie weigern sich oft, Steuern zu zahlen. Die Sicherheitsbehörden rechneten der Szene zuletzt rund 19.000 Menschen zu. Für Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) steht fest: "Wer diesen Staat als solchen ablehnt und bestreitet, dass es ihn gibt, der hat natürlich nichts auf der Payroll dieses Staates zu suchen und den muss man sofort rausschmeißen".

Ein Ausgangspunkt von Ermittlungen zu Rechtsextremisten in den Sicherheitsbehörden war der Fall des Bundeswehroffiziers Franco A.. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, Anschläge auf Politiker geplant zu haben. Franco A. hatte sich eine falsche Identität als syrischer Flüchtling zugelegt - aus Sicht der Ankläger, um nach einem Anschlag den Verdacht auf Flüchtlinge zu lenken. Er war 2017 auf dem Wiener Flughafen festgenommen worden, als er eine geladene Pistole aus einem Versteck holen wollte.

Im Nordrhein-Westfalen wurden laut Bericht 179 Sachverhalte untersucht, bei denen ein Verdacht auf Rechtsextremismus bestand. In Berlin waren es 74 Fälle. Auf Platz drei lag Hessen mit 60 überprüften Sachverhalten. In Bayern waren es 38. In Sachsen gab es 26 Prüf-, Verdachts- und erwiesene Fälle von Rechtsextremismus.

Es muss genau hingeschaut werden

Allerdings bilden diese Zahlen nicht nur den Umfang des Phänomens in den Sicherheitsbehörden des jeweiligen Bundeslandes ab, sondern auch das Problembewusstsein, das jeweils vor Ort herrscht. Mit anderen Worten: Wo Vorgesetzte eher wegschauen oder rechtsextreme Vorfälle verharmlosen, gibt es automatisch weniger Verdachtsfälle. Den ersten Lagebericht hat Haldenwang im Oktober 2020 vorgelegt. Da die Methodik verändert wurde und sich die untersuchten Zeiträume überschneiden, ist ein Vergleich der Ergebnisse kaum möglich.

Der Anstieg der Fallzahlen dürfe "auf die weitere Aufhellung des Dunkelfeldes" zurückzuführen sein, heißt es in dem Bericht. Menschenverachtende Äußerungen in Chatgruppen sowie zahlreiche Waffen- und Munitionsfunde zeigten deutlich, wie ernst das Problem sei, sagte der Obmann der Grünen im Innenausschuss des Bundestags, Marcel Emmerich. "Viel zu lange wurden enorme Gefahren unterschätzt und verharmlost." Die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Martina Renner, ist der Auffassung, die Zahlen seien "weit von der Realität entfernt". Sie meint: "Die Aufarbeitung rechter Strukturen in den Sicherheitsbehörden steckt noch in den Kinderschuhen."

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