Odessa. . Die Hafenstadt Odessa bereitet sich auf den russischen Angriff vor. Eindrücke unserer Reporterin aus einer Stadt, die den Atem anhält.

Es ist ein schöner, sonniger Tag. Ein Tag, der eigentlich Lust auf einen Bummel durch die Altstadt von Odessa oder auf einen Spaziergang am Strand machen müsste. Aber die Straßen sind mit großen „Tschechenigeln“ gesperrt, kreuzförmig verschweißten Metallträgern, die Panzer am Durchfahren hindern sollen. Nur Anwohner und Menschen auf dem Weg zur Arbeit dürfen die zur Strandpromenade führenden Straßen betreten. Vor der Küste von Odessa, dem größten Hafen der Ukraine, wurden russische Schiffe gesichtet.

Odessa konnten die Russen, die 130 Kilometer weiter östlich in der Stadt Mykolajiw feststecken, noch nicht einnehmen. Allerdings gibt es fast ständig Luftalarm. Nach dem leichten Bombardement, bei dem am Morgen des 21. März ein Gebäude in Küstennähe zerstört wurde, geht das Leben aber auf fast normale Weise weiter – trotz der Ausgangssperre und der Sirenen, die kaum noch zur Kenntnis genommen werden.

Ukraine-Krieg: Odessa hält den Atem an

„Odessa ist noch sicher”, glaubt die 33-jährige Fotografin Alina. Sie trägt ein T-Shirt in den Farben der Ukraine. Sie näht und verkauft diese Shirts, um Geld für die Unterstützung der ukrainischen Armee zu sammeln. Außerdem hat sie eine Küche aufgezogen, in der Freiwillige warme Mahlzeiten für die Soldaten zubereiten. „Ich habe Vertrauen in unsere Armee“, sagt sie. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir so lange durchhalten können. Ich habe Angst, ich bin noch nicht bereit zu sterben. Aber ich werde bis zum Ende hierbleiben, egal was passiert.“

Angst vor russischem Angriff: Odessa wird zur Festung
Angst vor russischem Angriff: Odessa wird zur Festung

Justine Salvestroni berichtet für unsere Redaktion und unsere französische Partnerzeitung „Ouest-France“ aus der Ukraine. Die 34-jährige Französin arbeitet seit zehn Jahren als Journalistin. Sie war bislang vor allem in Mittel- und Osteuropa unterwegs, coverte die Proteste in Belarus und reiste häufig nach Polen und in die baltischen Staaten. Ihre thematischen Schwerpunkte sind Frauenrechte, Justiz, Umwelt sowie soziale und politische Veränderungen.

Odessa ist mit über einer Million Einwohnern und vielen Touristen normalerweise eine quirlige, multikulturelle Metropole mit einem reichen Kulturleben. Jetzt liegt Stille über der Stadt. Aber es ist nicht die Stille der Pandemie und nicht die Stille eines trägen Wintertages ohne Touristen. Es ist eine Stille ohne Kinderlachen, sogar ohne Hundegebell. Odessa hält den Atem an und wartet auf den Angriff der russischen Armee, den der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bereits vor einer Woche vorhergesagt hat.

Ein Wohnhaus in Odessa nach einem russischen Angriff.
Ein Wohnhaus in Odessa nach einem russischen Angriff. © dpa

Odessa ist sonst eine fröhliche Stadt

Die Stadt wird von zahlreichen Checkpoints geschützt, die nur mit einem Code passiert werden können. Die Stimmung ist noch ruhig und zuversichtlich. Bei einer der Kontrollen bietet ein junger Soldat sogar Bonbons an. „Normalerweise ist Odessa eine fröhliche Stadt. Die Leute lächeln, sie sind hier glücklich“, erklärt die 40-jährige Elena, eine Mitarbeiterin bei der Bahn. „Meine Freunde drängen mich, die Stadt zu verlassen.

Aber ich will nicht, trotz meiner Angst. Die Vorstellung, dass die Russen diese wundervolle Stadt zerstören könnten, ist furchtbar.“ Ihre beiden Kinder - 11 und 18 Jahre alt - wollen in Odessa bleiben, auch wenn alle ihre Freunde das Land schon verlassen haben. „Ich hoffe, dass wir uns verteidigen können, aber ich habe Angst, wenn ich daran denke, was die Russen hier anrichten können.“

Eine ältere Frau geht in Odessa an Betonblöcken vorbei, die mit Sandsäcken bedeckt sind.
Eine ältere Frau geht in Odessa an Betonblöcken vorbei, die mit Sandsäcken bedeckt sind. © dpa | Petros Giannakouris

Artjom, ein etwa 60-jähriger Bergsteiger, ist in der Jekaterininskaja-Straße geboren und hat sein Leben dort verbracht. Auch er will nicht weg von hier: „Meine ganze Familie ist nach Rumänien gegangen. Aber wir dürfen nicht alle fliehen. Die Ukraine blutet aus. Ich habe Angst, ich bin ein unpolitischer Pazifist. Aber Odessa ist meine Stadt, und ich bleibe.“

Freiwillige füllen Sandsäcke und stellen Tarnnetze her

In den Straßen hängen noch Plakate für Konzerte, die wegen des Krieges abgesagt wurden. Ein Supermarkt kündigt die „baldige Eröffnung“ an, zu der es wohl nicht kommen wird. Sehr viele Geschäfte, Restaurants, Praxen, Cafés, Supermärkte, Banken sind geschlossen. Auf fast alle Gebäude im Zentrum, auch auf die schönen neoklassizistischen Fassaden, sind blau-gelbe Flaggen gemalt.

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Die Bewohner haben selbst mit angepackt, um ihre Stadt zu schützen. Die als Straßensperren aufgestapelten Sandsäcke wurden am Strand von Freiwilligen gefüllt. Die darüber ausgebreiteten Tarnnetze wurden in Heimarbeit hergestellt: Zwischen den aufgeknoteten Stofffetzen sieht man Leopardenmuster und Goldfäden, die wohl kaum dem militärischen Reglement entsprechen.

Abschiedsgruß: Ein Vater verabschiedet sich von seiner Tochter, die in einem Evakuierungszug aus Odessa sitzt.
Abschiedsgruß: Ein Vater verabschiedet sich von seiner Tochter, die in einem Evakuierungszug aus Odessa sitzt. © BULENT KILIC / AFP

Alina glaubt, dass die russische Bedrohung die Ukrainer zusammengeschweißt hat – selbst in dieser Stadt, in der die russische Sprache und Kultur beherrschend sind und die einst ein Juwel des russischen Zarenreichs war. „Die Ukrainer sind mutig, anders als die Russen, die sich noch nicht einmal ihrem eigenen Präsidenten entgegenstellen. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, bis wir ein unabhängiges und demokratisches Land ohne Korruption sind, aber wir werden es schaffen.“

Kinder nach Moldau in Sicherheit gebracht

Das hofft auch der 44-jährige Vadym Gudkov, der im Auftrag der Stadtverwaltung die Verteilung der Hilfsgüter aus der EU organisieren soll. Gleich am ersten Tag des Krieges hat er seine Kinder an die moldawische Grenze gefahren und dort 27 Stunden in der Warteschlange verbracht, um sie in Sicherheit zu bringen.

Seitdem verlässt er das Haus nicht mehr ohne seinen Rucksack, der das Nötigste zum Überleben enthält: Stirnlampe, Batterien, Nottelefon, Müsliriegel, Wasser, Erste-Hilfe-Set, Wechselwäsche. „Wir sind dabei, eine eiserne Reserve anzulegen“, erklärt Vadym. „Sie enthält Trockennahrung, Öl und Weizen, damit wir im Fall eines Angriffs überleben können, außerdem Medikamente, militärische Ausrüstung und Benzin.“

Panzersperren, wie hier in Odessa, wurden auch in Schowkwa aufgebaut.
Panzersperren, wie hier in Odessa, wurden auch in Schowkwa aufgebaut. © dpa | Ukrinform

Der Krieg macht die Menschen härter

Seinem Eindruck nach ist die Stimmung trotz der schlechten Organisation in den ersten Tagen ausgezeichnet. Es gebe eine beispielhafte Solidarität unter den Bewohnern von Odessa, die sich entschlossen haben, ihre Stadt zu verteidigen. Die Kommunalpolitiker wurden durch Militärs ersetzt, und die Koordination funktioniert.

„Aber was wird passieren, wenn jeder von uns einen Freund, einen Bruder, einen Kameraden verloren hat?“, fragt sich Vadym. „Die Menschen werden härter werden.“ Er glaubt, die Russen können den Ukrainern nicht verzeihen, dass sie ihre Freiheit erkämpft haben: „Sie sind schwach, wir sind stark. Und wir werden gewinnen!“

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.