Berlin. Über die Auslastung der Intensivstationen wegen Corona wird heftig gestritten. War die Stimmung schlechter als die tatsächliche Lage?

  • War die Situation auf den Intensivstationen gar nicht so dramatisch wie in den letzten Wochen dargestellt?
  • Ein am Wochenende veröffentlichtes Thesenpapier zweifelt daran
  • Unter anderem sollen Covid-Patienten hierzulande zu leichtfertig intensivmedizinisch versorgt worden sein
  • Lesen Sie hier, was an dem Vorwurf dran ist – und wie die Situation auf den Intensivstationen war

Covid-Fälle haben im Laufe der Pandemie „maximal ein Viertel aller Intensivpatienten“ in den deutschen Krankenhäusern ausgemacht. Zu diesem Ergebnis kommt eine Gruppe von Ärzten und anderen Medizinexperten um den Kölner Wissenschaftler Matthias Schrappe in einem Ad-hoc-Papier zur Corona-Politik.

In den sozialen Netzwerken wird heftig darüber gestritten. Pfleger und Ärzte erleben ihren Arbeitsalltag anders, dramatischer („am Anschlag“). Die Diskussion unter dem Hashtag #DiviGate sei „ein Schlag ins Gesicht“ für die, die auf Intensivstationen arbeiteten, twittert eine Userin.

Auch die im Papier von Schrappe und seinen Kollegen kritisierten Verbände – allen voran die Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) – zeigten sich empört und wiesen die erhobenen Vorwürfe der Panikmache und der Manipulation „aufs Schärfste“ zurück. „Viele der Anwürfe Schrappes basieren auf Fehleinschätzungen und mangelnder Kenntnis der tatsächlichen Lage in Kliniken“, heißt es in einer am Montag veröffentlichten gemeinsamen Stellungnahme der Divi, des Marburger Bundes und der Deutschen Krankenhausgesellschaft.

Corona-Prognosen als politisches Erwartungsmanagement

Aber: Haben die Bundesregierung und die Interessenverbände die Lage dramatisiert, sind sie bei der Wahrheit geblieben? „Die Prognosen sollten ja gerade nicht in Erfüllung gehen“, meint Frank Ulrich Montgomery. „Die Warnungen haben dazu geführt, dass Politik und Bevölkerung sich vorsichtig verhalten haben“, sagte der Weltärzte-Chef unserer Redaktion.

Mit diesem Erwartungsmanagement kennt sich das Robert-Koch-Institut (RKI) aus. Dessen Präsident Lothar Wieler bemerkte, die Warnungen seien „ja auch ein Appell an die Bevölkerung“. Das sei „auch das Ziel von Prognosen.“

Das Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI) registriert allerdings nicht Stimmungen, sondern Fakten; tagesaktuell, wie viele Betten auf den Intensivstationen belegt sind. Am 18. Mai waren es 20.448.

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© dpa | Waltraud Grubitzsch

Ärztepräsident Montgomery: „Man darf nicht allein die Betten zählen“

Im Verlauf der vergangenen zwölf Monate schwankte die Zahl zwischen 19.000 und 21.000. Die „Welt“ zitiert den Epidemiologen Klaus Stöhr mit dem Satz „man hatte immer genug Betten.“ Für den Virologen Alexander Kekulé hatte Deutschland „zu keinem Zeitpunkt auf den Intensivstationen ein Problem.“

„Man darf nicht allein die Betten zählen, sondern muss auch das dahinter stehende Personal sehen“, mahnt Montgomery. Er weist daraufhin. „dass die Covid-Patienten auf dafür besonders geeignete Kliniken konzentriert wurden“. In diesen Intensivstationen war der Anteil der Covid-Patienten höher als es Durchschnittszahlen wiedergeben. „Die Warnungen waren total berechtigt. Wir hatten eine Überlastung. Es war kein Alarmismus in meinen Augen“, meint Montgomery.

Covid-Patienten müssen länger auf Intensivstationen bleiben

Schwieriger zu belegen ist die Behauptung, die Covid-Patienten würden immer jünger. In der Ad-Hoc-Studie heißt es, die Aussage der Verantwortlichen des Intensivregisters, „dass inzwischen schon 30- bis 40-Jährige auf Intensivstationen liegen, lässt sich also insofern präzisieren, als dass diese 2,8 Prozent aller Covid-19-Patienten auf Intensivstationen ausmachen“. Absolut betrachtet: etwa 130 Patienten. 7,8 Prozent der Patienten auf Intensivstation seien 40-49 Jahre alt, 22 Prozent 50-59 Jahre, der Hauptteil der Patienten sei älter als 60 Jahre.

Unbestritten ist, dass die Covid-Patienten ungleich länger auf der Intensivstation liegen – im Schnitt bis 18 Tage – als es bei anderen Erkrankten typischerweise der Fall (drei bis vier Tage) ist. Die Intensivstationen mussten vor Beginn der dritten Welle befürchten, dass der Anteil der jüngeren Patienten (die älteren waren teilweise geimpft) steigen und sie infolgedessen länger dort verweilen würden.

Ein häufiges Argument war, dass Kliniken planbare Eingriffe verschieben mussten, damit es zu keiner Konkurrenz um einen Intensivplatz zwischen „herkömmlichen“ Patienten und Corona-Infizierten kommt.

Die Autoren des Ad-hoc-Papieres halten dagegen, „dass die Zahl der elektiven Eingriffe (nicht unaufschiebbare Operationen, Anm. der Redaktion) in Deutschland im internationalen Vergleich unverhältnismäßig hoch ist.“ In keinem Land würden „im Vergleich zur Melderate so viel Infizierte intensivmedizinisch behandelt, und in keinem Land werden so viel hospitalisierte Infizierte auf Intensivstation behandelt.“

Intensivstationen: Leichtfertige Verlegung von Covid-Patieten

Der Vorwurf: In Deutschland würden Covid-19-Patienten im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zu leichtfertig auf die Intensivstationen verlegt. In der Stellungnahme der Divi heißt es dazu, der Hinweis sei „gänzlich unbelegt“. Es sei „gerade die Stärke der deutschen Krankenhausstrukturen, die schwerkranken Patienten adäquat in den Intensivkapazitäten zu versorgen“.

Der „taz“-Journalist Malte Kreutzfeldt hat zudem die Berechnung des Papiers überprüft. Dort wird der Prozentsatz der Covid-Patienten in Behandlung auf einer Intensivstation mit 44 Prozent aller hospitalisierten Covid-Fälle angegeben.

Laut Kreutzfeld liegen hier aber falsche Zahlen zugrunde: Die im Papier verwendeten beschreiben die Zahl der wöchentlichen Neuaufnahmen in Krankenhäusern – nicht die Gesamtzahl der dort liegenden Patientinnen und Patienten. Diese wird nicht exakt erfasst, lässt sich aber aus der mittleren Liegedauer errechnen, laut RKI 10 Tage.

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Rechnet man mit diesem Wert die im Papier angegeben Krankenhausfälle um, kommt man auf wesentlich mehr hospitalisierte Covid-Fälle – was die Quote der Intensivpatienten unter diesen Fällen auf 31 Prozent senkt. Die liegt damit wesentlich näher an der, die andere europäische Länder angeben, wenn auch leicht darüber.

Das Bundesgesundheitsministerium geht sogar von einer durchschnittlichen Liegedauer von 11,2 Tagen aus, was die Quote entsprechend weiter senkt.

So schreibt die Divi in der Stellungnahme, der Vorwurf Schrappes sei „ein wirklicher Schlag ins Gesicht der Ärztinnen und Ärzte und der Pflegekräfte in den Krankenhäusern“.

Pandemie: Selbst Herzinfarktpatienten meiden die Kliniken

Der Kardiologe Ulf Landmesser machte Ende April in der Berliner Morgenpost noch eine ganz andere Beobachtung: „Wir sehen 30 Prozent weniger Herzinfarkte“. Ein „großes Problem“ sah er nicht vonseiten der Kliniken, sondern auf Patientenseite, „weil viele Menschen Angst haben, ins Krankenhaus zu gehen.“

Die Autoren der Ad-hoc-Studie schreiben, „nach einer Phase der Überforderung durch mangelnde Organisation und Ausstattung während der ersten „Welle“ kam es in der zweiten Phase zu einer starken Beanspruchung des medizinischen Personals und – mitbedingt durch die Impfung der Mitarbeiter – in der dritten „Welle“ zu einer relativen Stabilisierung“. Zu Beginn der dritten Welle waren demnach die Erwartungen düsterer als die Lage.

Corona auf Intensivstationen: Standen stets genug Kapazitäten zur Verfügung?

Laut Ad-hoc-Papier wurden im Jahr 2020 „zur Behandlung von Covid-19-Patienten durchschnittlich zwei Prozent der stationären und vier Prozent der intensivmedizinischen Kapazitäten – bei deutlichen Differenzen in zeitlicher und räumlicher Hinsicht – genutzt“.

Im Sommer 2020 pendelte sich die Zahl der Covid-19-Patienten in den Intensivstationen auf Werte zwischen 200 und 250 ein, zum Jahreswechsel stieg sie auf über 5700. Aktuell liegt sie bei über 4000. Bundesweit standen jederzeit freie Betten und eine Notfallreserve zur Verfügung.