Berlin . Sozial engagieren ist Grundbildung, meint Philipp Brendel. Per Pflicht lässt sich kein “Gemeinsinn“ überstülpen, sagt Theresa Martus.

Pro: Soziales Engagement gehört zur Grundbildung

Von Philipp Brendel

Jährlich leisten tausende Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland einen Bundesfreiwilligendienst. Sie bereichern dadurch nicht nur ihre persönlichen Erfahrungen, sondern auch die Gesellschaft. Junge Menschen können dabei etwas sehr Wichtiges mitnehmen: Es geht nicht nur um mich, sondern auch um andere. Und: Es ist ein einzigartiges Gefühl, etwas für andere zu tun – Selbstlosigkeit zu lernen.

Bei der Frage, ob ein sozialer Dienst Pflicht werden soll, geht es also um eine Grundsatzfrage: Gehört Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen zur Allgemeinbildung? So wie Kurvendiskussionen oder die Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Die Antwort ist: ja. Denn was könnte wichtiger sein?

Win-win-Situation: Soziale Berufe stärker im Fokus

Nach Schule und Abschluss heißt es für viele junge Leute schnell in die große weite Welt hinaus. Oder sie gehen den strammen Marsch durch Studium, Beruf und Familie. Nur ein gewisser Anteil engagiert sich freiwillig im sozialen Bereich. Doch ein Blick über den Tellerrand hinaus wäre eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.

Soziale Berufe würden stärker in den Fokus von Schulabgängern geraten. Außerdem könnten sich während der Dienstzeit junge Leute für einen Beruf begeistern, den sie zuvor nicht in Erwägung gezogen hätten.

Individuelle Freiheit und Entwicklung und ein verpflichtender Sozialdienst sind kein Widerspruch. Denn die eigene Freiheit funktioniert nur durch die Freiheit aller. Je sozialer eine Gesellschaft ist, desto freier kann sie insgesamt leben.

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Image muss verbessert werden

Außerdem könnte der Dienst zeitlich flexibel angepasst werden. Klar ist aber auch: Bei einem Sozialdienst darf es nicht darum gehen, junge Menschen als Handlanger für überforderte soziale Einrichtungen zu gewinnen. Ein Pflichtsozialdienst müsste entsprechend honoriert und vergütet werden.

Denn damit ein Sozialdienst Erfolg hat, muss das Image sozialer Berufe als einer Chaoswelt aus Fachkräftemangel, schlechter Bezahlung und Burnout gebrochen werden. Dienstleistende sollten zudem so betreut werden, dass ihnen Sicherheit im Umgang mit anderen Menschen gegeben wird. Denn sie sollen selbstsicher und motiviert in die Berufswelt starten.

Contra: Jugendliche sind keine billigen Arbeitskräfte

Von Theresa Martus

Seit März 2020 haben Jugendliche und junge Erwachsene die verschlafene Digitalisierung in Schulen und Unis ausgebadet, haben auf Reisen, Feste und Zeit mit Freunden verzichtet, um solidarisch zu sein mit denen, die besonders verwundbar sind. Und was bekommen sie zum Dank? Eine Neuauflage der Debatte darüber, ob man ihnen nicht mit mehr „Gemeinsinn“ per Arbeitspflicht überhelfen könne.

Theresa Martus, Politik-Korrespondentin.
Theresa Martus, Politik-Korrespondentin. © Reto Klar | Reto Klar

Losgetreten hat die jüngste Version der Bundespräsident, der darüber nachdenkt, ob man junge Menschen nicht zu einem sozialen Dienst verpflichten könnte. Weil es den Gemeinsinn stärke und Menschen in Notlagen helfe – zufällig, oder vielleicht auch nicht so zufällig, in Bereichen wie der Versorgung alter Menschen, wo das Personal chronisch knapp und die Arbeitsbelastung hoch ist. Wie praktisch.

Ohne Priorität: Bedürfnisse von jungen Erwachsenen

Es grenzt an Frechheit, das zu verkaufen als eine Maßnahme, die vor allem den Interessen junger Menschen diene. Keine Frage, sich um hilfsbedürftige Mitglieder der Gesellschaft zu kümmern, kann eine große Bereicherung sein und Menschen weiterbringen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung.

Aber Steinmeiers Vorschlag kommt am Ende von mehr als zwei Jahren, die mit aller Härte deutlich gemacht haben, dass die Bedürfnisse von Jugend­lichen und jungen Erwachsenen keine Priorität haben in einem Land, in dem der Altersschnitt bei fast 45 Jahren liegt und die Wahlbeteiligung in keiner Gruppe so hoch ist wie bei den 50- bis 70-Jährigen.

Schon jetzt Engagement hoch

Jugendliche sind keine billigen Arbeitskräfte, über deren Zeit die Älteren einfach verfügen können. Sie sind nicht dazu da, die Löcher zu stopfen, die in den Pflege- und Sozialsystemen unter der politischen Führung älterer Generationen in den letzten Jahren zu gähnenden Abgründen geworden sind.

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Damit wird man jungen Menschen nicht gerecht – und im Übrigen auch nicht denen, die professionell pflegen, Kinder betreuen, sich um Wohnungslose oder Menschen mit Behinderung kümmern.

Schon jetzt engagieren sich rund 28.000 unter 27-Jährige im Rahmen der Bundesfreiwilligendienste, und das für maximal 423 Euro „Taschengeld“ im Monat. Diesen Bereich zu stärken wäre sehr sinnvoll. Eine Pflicht wäre es nicht.

Kommentar: Pandemie – Jugendliche brauchen ihr Leben zurück

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen.