Berlin. Im Ukraine-Krieg sterben auf russischer Seite vor allem Soldaten, die einer ethnischen Minderheit angehören. Das hat viele Gründe.

In der russischen Teilrepublik Dagestan flüchtet ein Polizist vor den aufgebrachten Frauen. Andere geben Warnschüsse ab, um sich die aufgebrachte Menge vom Leib zu halten. Aus Jakutien werden Bilder und Videos verbreitet, die eine Gruppe von Frauen zeigt, die Polizisten einkreisen, klatschen und rufen. Sie wollen ihre Väter, Männer und Söhne nicht hergeben für den Krieg in der Ukraine. Laut dagestanischen Medien war der Protest eine Reaktion darauf, dass aus dem Dorf 110 Männer in den Krieg gegen die Ukraine gezwungen wurden.

Überproportional viele Gefallene aus ärmeren Gebieten Russlands

Seit der russische Präsident Wladimir Putin, die Teilmobilmachung angekündigt hat, gehen vermehrt Menschen auf die Straße, um gegen die massenhafte Einberufung zu protestieren. Und das nicht nur in Moskau und St. Petersburg, sondern vor allem in abgelegeneren autonomen russischen Republiken im Nordkaukasus und Sibirien.

Die ethnischen Minderheiten, die in der gesamtrussischen Gesellschaft etwa 20 Prozent ausmachen, stellen bislang einen Großteil der Truppen, die für Russland in der Ukraine kämpfen. Recherchen des britischen Senders BBC und des russischen Medienunternehmens Mediazona belegen, dass die meisten russischen Soldaten und Gefallenen aus ärmeren Gebieten kamen, wie Dagestan, Buryatia oder Krasnodar.

Kaum Soldaten aus Moskau, obwohl dort neun Prozent der Bevölkerung wohnt

Sie berufen sich auf öffentlich zugängliche Daten und weisen darauf hin, dass ihre Zahlen wahrscheinlich viel zu niedrig sind. Russland hält sie geheim, deshalb sind belastbarere Aussagen über Gefallene kaum möglich. Nur wenige russische Soldaten kommen demnach aus den Zentren wie Moskau, obwohl dort fast neun Prozent der russischen Bevölkerung lebt. Laut aktuellem Stand des Projektes vom 23. September sind seit dem Einmarsch in die Ukraine mindestens 6756 Russen gefallen – 24 Moskauer während es allein aus Dagestan 306 getötete Soldaten sind.

Verabschiedung von den Liebsten im sibirischen Omsk. Deserteuren droht bis zu zehn Jahren Haft.
Verabschiedung von den Liebsten im sibirischen Omsk. Deserteuren droht bis zu zehn Jahren Haft. © imago/ITAR-TASS | imago stock

Bakhti Nishanov, Mitarbeiter der US-Kommission über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, schrieb auf Twitter, dass die Teilmobilisierung wieder unverhältnismäßig viele Männer aus Tschetschenien, Jakutien, Burjatien und Dagestan treffe. „Wenn sich dies bewahrheitet, handelt es sich zweifellos um einen systematischen Versuch, die ethnischen Minderheiten als Kanonenfutter einzusetzen“. Ist Putins Krieg rassistisch?

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Viele Gründe für Rekrutierung aus ärmeren russischen Gebieten

Für Timothy Snyder, renommierter Yale-Historiker mit dem Schwerpunkt Osteuropa, deutet sich genau das an. Für ihn ist der Krieg gegen die Ukraine gewissermaßen ein imperialer Krieg gegen die eigenen nicht-russischen Minderheiten. Während größtenteils Soldaten aus asiatischen Regionen an die Front geschickt werden, würden massenhaft ukrainische Frauen und Kinder nach Russland deportiert werden – für ihn der Beweis, dass Russland „weißer“ gemacht werden soll, schreibt er auf Twitter.

Die Autoren der BBC- und Mediazona-Auswertung sehen andere Gründe: „Demografie, ausgeprägte Einsatzbereitschaft für das Militär, große Anzahl von stationierten Militäreinheiten in diesen Regionen, niedrige Gehälter und Arbeitslosenquote machen die Armee attraktiv für junge Männer“, führen sie auch als Gründe für die hohe Rekrutierungsrate in diesen, sehr viel ärmeren Regionen an.

Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, sieht vor allem politisches Kalkül hinter den Einberufungen ethnischer Minderheiten: „Das Risiko von Protesten ist in den ärmeren Regionen weniger wahrscheinlich“, sagte er unserer Redaktion. Zwar gebe es die Ungleichheiten, die sich in der Einberufungspraxis des Krieges deutlich zeigten, aber „Russland vertritt den ideologischen Anspruch, alle Nationalitäten in den russländischen Staat einzubinden“, so Schmid.

Offiziell integrative Politik Russlands

Mit diesem Integrationsanspruch habe sich Russland auf internationalem Parkett gebrüstet. Er sei integraler Bestandteil des außenpolitischen Konzepts „Russkij mir“ – auf Deutsch lässt es sich sowohl mit russischer Welt als auch russischer Frieden übersetzen. Putin habe es Anfang der 2000er Jahre eingeführt und damit Interventionen in anderen Ländern legitimiert, wo Russen angeblich in Gefahr seien – beispielsweise bei der Krim-Annexion. Russen seien dabei alle, die Russisch sprechen und empfinden.

Es handele es sich um kein ethnozentrisches Konzept, erklärt Dr. Stefan Meister, Russland-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). „Es hat erstmal nichts Rassistisches, weil es übergreifend ist und sowohl russischsprachige und -denkende Menschen aus Kasachstan wie auch Armenien oder anderen Staaten einbeziehen kann.“

Nach Putins erneutem Amtsantritt: Forcierte Slawisierung

Allerdings habe nach Putins erneutem Amtsantritt als Präsident 2012 die Vorstellung an Bedeutung gewonnen, sich auf den slawischen Ursprung zu besinnen. Der Gedanke, es brauche mehr Ostslawen in Russland, rückte die Eingliederung der Ukraine mit einer mehrheitlich ostslawischen Bevölkerung in die Russische Föderation in den Fokus. Zusätzlich wurde das erweiterte Konzept religiös überhöht, indem fortan von der „Dreieinigkeit“ von Russen, Ukrainern und Belarussen die Rede war.

Der russische Präsident Wladimir Putin bezeichnet Russen, Belarussen und Ukrainer als ein Volk. Seit 2012 liegt der Fokus verstärkt auf der ostslawischen Bevölkerung.
Der russische Präsident Wladimir Putin bezeichnet Russen, Belarussen und Ukrainer als ein Volk. Seit 2012 liegt der Fokus verstärkt auf der ostslawischen Bevölkerung. © AFP | Gavriil Grigorov

Damit habe ein rassistisches Element Einzug gehalten, das in der Begründung für den Einmarsch in der Ukraine zum Tragen kam: „Der Kreml behauptet: Die Ukrainer haben kein Recht, eine Nation zu sein, und sie sind kein Teil des russischen Ethos. Das ist für mich das eigentlich rassistische“, so Russland-Experte Meister.

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100-prozentige Mobilisierung in den Dörfern

Auch wenn Russland-Experten das Vorgehen bei der Rekrutierung in der Russischen Föderation nicht als rassistisch bewerten: Die erste Mobilisierung in Russland seit dem Zweiten Weltkrieg trifft offenbar überproportional die ethnischen Minderheiten.

Gleich nachdem Putin bekannt gab, dass 300.000 Soldaten und Soldatinnen eingezogen werden, verteilte der Dorfvorsteher einer 450-Seelen-Gemeinde in der Region Zakamensky in Burjatien mehr als 20 Bescheide. Sie wurden in einem Kleinbus gleich abtransportiert. Das sei keine Teilmobilisierung in vielen Dörfern gewesen, sagte Alexandra Garmazhapova, Präsidentin der Aktivistengruppe „Free Buryatia Foundation“ dem britischen „Guardian“: „Es ist eine 100-prozentige Mobilisierung“.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.