Berlin. Mit mehr als einer halben Million Zuwanderern pro Jahr will die FDP die Sozialkassen stabilisieren. Forscher zweifeln, ob das gelingt.

Das Umlagesystem der gesetzlichen Rente in Deutschland steht unter Druck. Hauptgrund ist die Bevölkerungsentwicklung. Denn die Zahl der Rentner wächst stärker als die der Erwerbstätigen, deren Beiträge zur Finanzierung der Altersbezüge herangezogen werden. Das führt seit Jahren dazu, dass deutlich weniger Geld in den gemeinsamen Topf hineinfließt, als es nötig wäre, um daraus sämtliche Rentenansprüche zu bedienen.

Der Staat schießt deshalb Hunderte Milliarden an Steuergeldern zu. Dennoch ist längst klar, dass auch das nicht ausreicht. Das System der gesetzlichen Alterssicherung befindet sich in einer Finanzkrise, das Rentenniveau sinkt.

Im Jahr 2000 erhielten Ruheständler noch eine Rente in Höhe von knapp 53 Prozent ihres durchschnittlichen Nettolohns aus 45 Arbeitsjahren. Für die Zeit bis 2025 gilt eine politische Festlegung, dass das Rentenniveau 48 Prozent des Lohnniveaus nicht unterschreiten darf. Für die Zeit danach gibt es jedoch noch keine Lösung.

Seit Jahren müht sich die Politik um Wege, ein weiteres Absinken der Renten zu verhindern, etwa durch private Zusatzversicherungen oder mehr betriebliche Altersvorsorge. Die FDP schlägt zudem einen Einstieg in eine gesetzliche Aktienrente vor. Und sie will noch an einer weiteren Stellschraube des Systems drehen: Durch hunderttausendfache Zuwanderung soll die Zahl der Beitragszahler in Deutschland steigen. So sieht es ein aktuelles Konzept der Liberalen vor.

Forderung: Mindestens 500.000 Einwanderer im Jahr

„Deutschland braucht mindestens 500.000 Einwanderer pro Jahr“, fordert der Vizevorsitzende der FDP im Bundestag, Christian Dürr. Das klinge zunächst nach einer hohen Zahl, aber gemessen an der Größe Deutschlands und im Vergleich zu klassischen Einwanderungsländern wie Kanada oder Australien „ist das nicht viel“, sagt Dürr unserer Redaktion. Er betont: „Einwanderung ist ein wichtiger Schlüssel für stabile Finanzen.“

Immer weniger Menschen zahlten in die Sozialsysteme ein, und der Zuschuss des Bundes in die Rente werde mit jedem Jahr höher. „Wir müssen jetzt handeln“, mahnt Dürr an. „Wenn wir es schaffen, Deutschland zu einem attraktiven Land für Einwanderer zu machen und gleichzeitig unsere öffentlichen Finanzen zukunftssicher zu machen, gewinnt unsere Gesellschaft doppelt.“

Starke demografische Verschiebungen

Tatsächlich zeigen Statistiken, dass ausländische Beitragszahler zur Stabilisierung der Rentenkasse beitragen. Nach Zahlen der Deutschen Rentenversicherung hatten Ende 2019 knapp 6,8 Millionen der etwa 39,1 Millionen aktiv Rentenversicherten keine deutsche Staatsbürgerschaft. Ihr Anteil an den Beitragszahlern lag damit bei 17,3 Prozent. Menschen mit türkischem Pass waren mit rund 1,04 Millionen die größte Gruppe unter den Rentenbeitragszahlern, gefolgt von Polen (548.000).

Nach Berechnungen von Martin Werding, Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr-Universität Bochum, kann eine verstärkte Einwanderung langfristig durchaus zu positiven Effekten im Rentensystem führen. Im Fall einer Nettozuwanderung von 500.000 pro Jahr, wie es die FDP fordert, läge das Rentenniveau im Jahr 2060 vier Prozentpunkte höher als in derzeitigen Ausgangsszenarien.

Fortzüge aus Deutschland sind in dieser Wanderungsbilanz bereits berücksichtigt. Und selbst wenn nach Verrechnung von Weg- und Zuzügen jährlich nur 300.000 Arbeitnehmer aus dem Ausland unter dem Strich dazukämen, würde das Rentenniveau nach Werdings Kalkulation im Jahr 2060 um immerhin zwei Prozentpunkte höherliegen. Derzeit liegt der langjährige Durchschnitt der Nettozuwanderung bei rund 200.000 im Jahr.

Dennoch sieht Werding in mehr Migration nicht die alleinige Rettung für das heimische Rentenpro­blem. Wenn Menschen zum Arbeiten nach Deutschland kämen, stütze das zwar das Umlagesystem. „Die demografischen Verschiebungen in Deutschland sind allerdings so stark, dass mit Zuwanderung allein das Problem der zu niedrigen Geburtenzahlen im Rentensystem nicht auszugleichen ist. Dafür bräuchte es eine Nettozuwanderung pro Jahr von einer Million“, erklärt Werding. Das sei aber „kaum leistbar“, wie das Jahr der Migrationskrise gezeigt habe.

Experte: Optimal sind Berufe mit mittlerem Verdienst

Zudem stelle sich die Frage: „Wo sollen die Leute überhaupt herkommen?“ Wenn es so viele sein sollen, müssten das Menschen aus Nicht-EU- und Nicht-OECD-Ländern oder weiter entfernten Drittstaaten sein. „Nur wandern diese Gruppen momentan nicht in dem Maße zu uns. 2015 war da die absolute Ausnahme“, gibt Werding zu bedenken.

Am besten seien Zuwanderer mit einer beruflichen Qualifikation. Es müssten nicht Hochqualifizierte sein, denn deren Gehälter lägen oft oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze für die gesetzliche Rente. „Ihr hoher Verdienst zahlt sich damit nicht zusätzlich für das Rentensystem aus. Eine Stütze für das Umlagesystem sind eher Zuwanderer, die in Berufen mit mittleren Einkommen arbeiten“, erklärt der Wissenschaftler.