Brüssel. Die Renten steigen wie lange nicht. Das gleicht die Inflation aus. Doch verlässliche Rentenpolitik sieht anders aus. Ein Kommentar.

Die Überraschung ist Arbeitsminister Heil gelungen: Die Renten steigen in diesem Jahr doch viel stärker als die Koalition geplant hatte – so kräftig wie seit den 80er Jahren nicht mehr. Ein sattes Plus von 5,35 Prozent im Westen, sogar 6,12 Prozent im Osten! Und doch wird vielen Senioren am Ende nicht viel davon im Portemonnaie übrigbleiben.

Bei einer aktuellen Inflationsrate von rund fünf Prozent, bei explodierenden Preisen für Lebensmittel, Heizung und Benzin und düsteren Prognosen für die nächsten Monate wird es für viele Rentnerinnen und Rentner de facto mehr oder weniger eine Nullrunde. Nachdem die Altersbezüge schon letztes Jahr nicht oder (im Osten) kaum gestiegen sind. Nicht auszudenken deshalb, was passiert wäre, wenn frühere Rentenpläne der Ampel-Koalition ungebremst umgesetzt würden.

Christian Kerl, Brüssel-Korrespondent
Christian Kerl, Brüssel-Korrespondent

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Ampel will Nachholfaktor für Rente wieder einführen

Die Ampel hatte ja im Koalitionsvertrag überraschend vereinbart, an der Rentenberechnung so herumzuschrauben, dass der Anstieg der Altersbezüge in diesem Jahr und auch in Zukunft weiter gedämpft wird. In voller Konsequenz umgesetzt, wäre das Plus 2022 nach Expertenberechnungen halbiert worden, was die meisten Rentner hunderte von Euro im Jahr gekostet hätte. Es geht um den sogenannten Nachholfaktor: Er ist das Gegengewicht zur Rentengarantie, die verhindert, dass bei sinkenden Löhnen Altersbezüge gekürzt werden – der Nachholfaktor soll zum Ausgleich Rentenerhöhungen in späteren Jahren dämpfen, er war aber 2018 zum Vorteil der Senioren ausgesetzt worden.

Tatsächlich will Minister Heil diesen Nachholfaktor nun unter großem Zeitdruck bis zur Rentenerhöhung am 1. Juli per Gesetz wieder einführen, was noch ein heißer parlamentarischer Ritt wird. Für die Rentner zumutbar ist das jetzt aber nur, weil das Arbeitsministerium für dieses Jahr nun statistische Effekte aus dem Hut zaubert, die einen Teil der Kürzung gleich wieder ausgleichen. Und außerdem sind die Löhne als Basis der Rentenberechnung unerwartet stark gestiegen. Gut so!

Renten könnten in kommenden Jahren deutlich geringer steigen

Die Renten bleiben von größeren Einschnitten verschont – und die Koalition kommt dank der erstaunlichen Rechenkünste ohne Blessuren davon: In der aktuellen Lage von dramatisch steigenden Preisen hätten Heil und die Ampel andernfalls einen Aufstand der Senioren riskiert. Nur: In den nächsten Jahren müssen Rentnerinnen und Rentner damit rechnen, dass die Altersbezüge wegen des Nachholfaktors eben doch deutlich geringer steigen als möglich.

Es gibt mit Blick auf die Stabilität der Rentenkasse gute Gründe dafür. Und mit Blick auf die Lage vieler Rentner gibt es gute Gründe dagegen. Aber unabhängig von der Perspektive: Es bleibt ein Ärgernis, dass in aller Eile und ohne größere Debatte Einschnitte beschlossen werden sollen, von denen vor der Bundestagswahl nicht die Rede war. Auch wenn es für dieses Jahr gut gegangen ist: Verlässliche Rentenpolitik sieht anders aus.

SystemDie gesetzliche Rente funktioniert nach dem Äquvivalenz- und dem Solidarprinzip.
Renten-ArtenGrund-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrente
AusnahmenSelbstständige und Freiberufler sind in der Regel von der Versicherungspflicht befreit.
FinanzierungDie gesetzliche Rente in Deutschland ist grundsätzlich umlagenfinanziert.
ProblemeDie Unterfinanzierung resultiert hauptsächlich aus der zunehmend älter werdenden Bevölkerung in Deutschland.
Drei SäulenDie Altersvorsorge in Deutschland umfasst die gesetzliche, betriebliche und private Altersvorsorge.
UrsprungDie gesetzliche Rente wurde am 22. Juli 1889 unter Reichskanzler Otto von Bismarck offiziell eingeführt.

Dieser Artikel ist zuerst auf Waz.de erschienen.