Berlin. Die abschlagsfreie Frühverrentung ist umstritten. Viele Arbeitnehmer nehmen sie in Anspruch. Doch die Kritik will nicht verstummen.
Abgesehen von der Grundrente war es das wohl größte sozialpolitische Kapitel der vergangenen Jahre: die Rente mit 63. Die 2014 beschlossene Regelung für einen vorzeitigen, abschlagsfreien Renteneintritt nach mindestens 45 Versicherungsjahren war seinerzeit das zentrale Prestigeprojekt vor allem des Regierungspartners SPD in der großen Koalition und der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles. Lesen Sie auch: Grundrente beschlossen: Antworten auf die wichtigsten Fragen
Sie wollte den bereits 2006 – ebenfalls unter Beteiligung der Sozialdemokraten – eingeführten Renteneintritt ab einem Regelalter von 67 zumindest für die langjährigen Beitragszahler abmildern.
Rente mit 63: Mehr Antragssteller als erwartet
Politisch ist die abschlagsfreie Frühverrentung nach 45 Beitragsjahren umstritten. Ökonomen kritisieren sie als teuer und nicht generationengerecht. Dennoch erfreut sich die Rente mit 63 unter älteren Arbeitnehmern großer Beliebtheit. Nach Informationen der Deutschen Rentenversicherung lässt sich sogar ein wachsender Zulauf verzeichnen.
Demnach bezogen 2019 genau 253.492 ältere Arbeitnehmer, also rund eine Viertelmillion, erstmals die Altersrente ohne Abschläge. Das waren rund 10.000 mehr als im Vorjahr. 2018 bekamen 243.719 Versicherte erstmals die abschlagsfreie Rente mit 63. Bei der Einführung 2014 hatte die Regierung jährlich nur rund 200.000 Antragsteller vorhergesagt.
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Die tatsächliche Zahl lag seither jedes Jahr deutlich über dieser Marke. Bis Ende 2019 bezogen in Deutschland insgesamt mehr als 1,4 Millionen Senioren die Rente mit 63.
Abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren: Nur zwei Jahrgänge erhalten sie wirklich
2019 wechselten 137.487 Männer und 111.005 Frauen vorzeitig und ohne finanzielle Einbußen in den Altersruhestand. Die Männer erhielten im Westen monatliche Rentenbezüge von im Schnitt 1557 Euro, bei Frauen waren es 1142 Euro. Im Osten erhielten Frauen 1204 Euro, Männer 1262 Euro.

Genau genommen gab es die Rente mit exakt 63 nur für zwei Jahrgänge – und zwar für die, die 1951 und 1952 geboren wurden. Wer früher auf die Welt kam und vorzeitig in den Ruhestand gehen wollte, musste Abschläge hinnehmen. Alle Jahrgänge nach 1952 müssen wieder länger arbeiten, um die volle Leistung zu beziehen – pro Folgejahrgang etwa zwei Monate mehr. So wurde es seinerzeit gesetzlich beschlossen.
Hohe Nachfrage: Rente mit 63 wohl teurer als kalkuliert
Wer beispielsweise zum kommenden November vorzeitig aussteigen will, muss bereits bis ins Alter von 63 Jahren und zehn Monaten gearbeitet haben, um keine Abschläge zu bekommen. Für alle Geburtsjahrgänge ab 1964 gibt es die abzugsfreie Frühverrentung erst ab einem Alter von 65. Voraussetzung bleiben aber in jedem Fall 45 Beitragsjahre. Wer für einen geringeren Zeitraum eingezahlt hat, kann zwar auch früher in Rente. Er muss dann aber mit Kürzungen des monatlich ausbezahlten Betrags rechnen.
Die erhöhte Nachfrage bei der Rente mit 63 macht die Leistung teurer als zunächst kalkuliert. Im Oktober 2019 gab die Rentenversicherung hierfür erstmals mehr als zwei Milliarden Euro aus. In den jeweiligen Folgemonaten dürften die Ausgaben weiter gestiegen sein.
Wie teuer die Rente mit 63 tatsächlich ist, lässt sich aber nicht eindeutig beziffern. Grund ist laut der Deutscher Rentenversicherung, dass nicht bekannt ist, wie viele Versicherte auch ohne die Neuregelung vorzeitig in den Altersruhestand gegangen wären und dafür finanzielle Einbußen in Kauf genommen hätten.
Kritiker fordern Abschaffung der Rente mit 63
Doch so beliebt die Rente mit 63 ist, die Wirtschaft ist bis heute nicht von ihr überzeugt. Die Arbeitgeber fordern jetzt sogar ihre Abschaffung. „Was wir brauchen, ist eine faire Debatte über Lebensarbeitszeit und Rentendauer.“

Dazu gehöre, „offen auszusprechen, dass jede Form der abschlagsfreien Frühverrentung eine schwere Hypothek für Arbeitsmarkt und Rentenkasse ist und deshalb möglichst auslaufen sollte“, sagte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Steffen Kampeter, unserer Redaktion. Man müsse „über diese fehlgeleitete Rentenpolitik“ ehrlich diskutieren.
Fachkräftemangel: Rente mit 63 könnte Probleme verschärfen
Kritik kommt auch vom CDU-Wirtschaftsrat. Dessen Generalsekretär Wolfgang Steiger sagte auf Anfrage, gerade in Zeiten des Fachkräftemangels sei es „absurd, dass allein in diesem Jahr rund eine Viertelmillion Arbeitskräfte frühzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden“. Er betonte, wenn sich die Wirtschaft nach der Corona-Krise erhole, „dürfte sich das Problem weiter verschärfen“.
Hinzu komme, „dass alle Beitragszahler die abschlagsfreie Rente für eine Minderheit finanzieren müssen. Damit wird die Beitragsgerechtigkeit weiter unterlaufen – und es ist ein fatales Signal an die jüngere Generation, die ohnehin schon rekordhohe Steuern und Abgaben schultern muss.“
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Generationenungerechtigkeit: Kosten für Rente mit 63 tragen die Jüngeren
Auch Johannes Vogel, FDP-Rentenexperte, kritisiert, die „sogenannte Rente mit 63“ habe nichts zur „Nachhaltigkeit und Stabilität unseres Rentensystems beigetragen, wohl aber gewaltige Kosten verursacht“. Und: „Das trifft vor allem die jüngeren Generationen.“
Skeptische Töne kommen auch vom Grünen-Sozialpolitiker Markus Kurth. Die Rente für langjährige Versicherte sei zwar „aus deren Sicht völlig berechtigt“, so Kurth mit Blick auf die jüngsten Zahlen. Für das Gesamtsystem der gesetzlichen Rentenversicherung sei es allerdings „schade um jede Erwerbsperson, die noch aktiv am Arbeitsleben teilnehmen kann“.
Nach Kurths Auffassung braucht es deshalb „Schritte für diejenigen, die nicht einmal bis 63 durchhalten“. Kurth nennt als Beispiele eine Förderung von speziellen Arbeitsbedingungen für Ältere sowie umfassende Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen.
Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.