Eine „Spezialoperation“ – so Putin – soll die Ukraine „entnazifizieren“. Mehr Verlogenheit kann es nicht mehr geben, meint Jörg Quoos.

Boris Romantschenko aus der ukrainischen Millionenstadt Charkiw hat in seinem Leben unfassbar viel Glück gehabt. Er überlebte als Jugendlicher die Konzentrationslager Buchenwald, Peenemünde, Dora – und sogar die Hölle des Vernichtungslagers Bergen-Belsen. Jetzt ist er tot.

Der 96-jährige Senior starb bei einem russischen Bombenangriff auf sein Wohnhaus, so berichten es Freunde aus der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Dort hatte sich der alte Herr mit dem wachen Blick und dem kräftigen Silberschopf bis ins hohe Alter engagiert und war regelmäßig zu den Gedenkveranstaltungen nach Deutschland gereist.

Jörg Quoos, Chefredakteur der Funke Zentralredaktion.
Jörg Quoos, Chefredakteur der Funke Zentralredaktion. © Dirk Bruniecki

Boris Romantschenko ist eines von Tausenden zivilen Opfern des russischen Angriffskrieges, der längst zu einem Vernichtungsfeldzug gegen die ukrainische Bevölkerung geworden ist. Jeder Tote in diesem Krieg ist einer zu viel. Aber das Schicksal des 96-Jährigen zeigt besonders brutal, wie absurd die angeblichen Kriegsgründe sind, die Wladimir Putin seit dem Überfall auf die Nachbarn immer wieder vorbringt.

Hintergrund: „Die Hölle auf Erden“: So leiden die Menschen in Mariupol

Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder sind eingekesselt

Eine „Spezialoperation“ – so Putin – soll die Ukraine „entnazifizieren“ und ethnische Russen vor einem „Genozid“ schützen. In Wahrheit zielen russische Angriffswaffen auf eine wehrlose Bevölkerung, die nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen Nazi-Deutschland acht Millionen Tote zu beklagen hatte. Sie zielen auf einen Präsidenten jüdischen Glaubens, dessen Großvater drei Brüder im Holocaust verlor. Und sie reißen im Jahr 2022 auch einen hochbetagten KZ-Überlebenden in seiner bescheidenen Rentner-Wohnung in den Tod. Mehr Verlogenheit kann es im Kreml nicht mehr geben.

Ein Mann geht mit einem Fahrrad eine durch Beschuss beschädigte Straße in Mariupol entlang.
Ein Mann geht mit einem Fahrrad eine durch Beschuss beschädigte Straße in Mariupol entlang. © dpa | Evgeniy Maloletka

In diesem Angriffsrausch haben jetzt die Bewohnerinnen und Bewohner von Mariupol das härteste Schicksal zu tragen. An ihnen statuiert eine der größten Militärmächte der Welt ein öffentliches Exempel, um vom eigenen militärischen Versagen abzulenken. Es ist blanker Terror, der das Land moralisch in die Knie zwingen soll. Anders ist das Vorgehen der russischen Militärs nicht zu erklären. Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder sind eingekesselt, ohne Schutz, ausreichend Medikamente, Strom, Heizung. Menschen, so heißt es in Augenzeugenberichten, müssen ihren Durst aus dreckigen Pfützen stillen.

An ihnen allen, den Bewohnern von Mariupol, Kiew und Charkiw, wird ein Exempel statuiert, und die Welt sollte ganz genau hinsehen. Weitere Städte werden folgen, wie der Beschuss jetzt auch von Odessa befürchten lässt.

China muss seine politische Unterstützung Russlands aufgeben

Dabei ist es so bitter: Dem Westen und der Nato bleiben nicht mehr als Waffenlieferungen und großzügige Hilfen für die Flüchtlinge. Ein direkter Eintritt in diesen Krieg würde noch mehr Tote fordern und am Ende vielleicht einen atomaren Albtraum heraufbeschwören. Niemand kann das wollen.

Aber die, die noch zu den Unterstützern Russlands zählen, müssen sich spätestens jetzt entscheiden, auf welcher Seite sie nach diesem Verbrechen stehen wollen. Besonders China muss endlich seine politische Unterstützung Russlands aufgeben und sich klar positionieren. Niemand hat mehr Einfluss auf Wladimir Putin und seine Regierung als Xi Jinping und seine Kommunistische Partei.

Jeder Tag, den die Chinesen jetzt tatenlos verstreichen lassen, macht auch ihr Unrecht größer. Aber auch andere Regierungen, darunter Staaten wie Indien und Venezuela, müssen sich positionieren. Sie alle sollten wissen: Wer auch nach der Vernichtung der ukrainischen Städte und ihrer Bevölkerung noch auf der Seite der russischen Führung ist, wird schwerlich ein Partner der Europäischen Union und Deutschlands bleiben können.

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt