Berlin. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer fordert, Nord Stream 1 zu reparieren. Er will die Gas-Pipeline als “Option erhalten“.

Der sächsische Regierungschef Michael Kretschmer sorgt sich wegen der hohen Energiepreise um die deutschen Unternehmen. Der CDU-Politiker fordert längere AKW-Laufzeiten – und eine Reparatur der Gaspipeline Nord Stream 1. Um die Wirtschaft im Osten zu stärken, will Kretschmer gezielt Fachkräfte aus dem Ausland in die neuen Länder holen.

Herr Kretschmer, wie hart trifft die Krise den Osten?

Michael Kretschmer: Die steigenden Energiepreise nehmen den Unternehmen in ganz Deutschland die Luft. In den neuen Ländern gab es eine positive Entwicklung vor dieser Krise, weil Investoren aus anderen Regionen der Welt ihre Produktionen hierher verlagern wollten. Die Unsicherheit bei der Energie kann vieles zunichtemachen. Die Unternehmen im Osten sind krisenerprobt – aber die Situation jetzt haben wir alle noch nicht erlebt.

Wird es Zeit für das nächste Entlastungspaket?

Kretschmer: Krisenintervention ist richtig, aber mit hektischen Einzelmaßnahmen lösen wir kein Problem. Es reicht nicht, die Symptome zu bekämpfen, wir müssen an die Ursachen ran. In einem Industrieland darf Energie kein knappes Gut werden. Der Ausbau der Erneuerbaren wird nicht genügen, um ein ausreichendes Angebot an bezahlbarer Energie zu schaffen. Wir müssen die verbliebenen drei Atomkraftwerke einige Jahre länger am Netz lassen – wie auch unsere Nachbarländer ihre Pläne verändert haben. Wir müssen uns an die Vereinbarung halten, den Kohleausstieg 2038 und nicht schon 2030 zu vollziehen. Und wir müssen uns an die Förderung von heimischem Gasreserven machen.

Dafür haben Sie keine Mehrheit.

Kretschmer: Wir brauchen grundlegende Weichenstellungen. Die Grünen versuchen durch Energieverknappung und hohe Preise, Unternehmen zu Veränderungen zu zwingen. Das wird dem Wirtschaftsstandort Deutschland extrem schaden. Ich rate dazu, eine Kommission einzurichten, die alle Gruppen und Interessen einschließt. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Konsens über die Energieversorgung der nächsten Jahrzehnte.

Wollen Sie dabei wieder auf russisches Gas setzen?

Kretschmer: Die Frage nach russischem Erdgas stellt sich nicht, so lange der Krieg tobt. Wir haben zerstörte Pipelines in der Ostsee. Jetzt kommt es darauf an, die verbliebene Röhre von Nord Stream 1 zumindest zu sichern. Die Betreiber sollten dafür sorgen, dass die Pipeline repariert werden kann. Die Zeit läuft. Wird der Schaden nicht behoben, ist Nord Stream 1 dauerhaft unbrauchbar.

Können Sie sich immer noch vorstellen, Gasgeschäfte mit Putin zu machen?

Kretschmer: Wir müssen uns die Option erhalten, nach Ende des Krieges nicht nur das sehr teure Flüssiggas zu nutzen. Wir sollten prüfen, aus welchem Land dann günstigere Gasalternativen erworben werden können. Das liegt in unserem nationalen Interesse.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer: „In einem Industrieland darf Energie kein knappes Gut werden.“
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer: „In einem Industrieland darf Energie kein knappes Gut werden.“ © epd | MATTHIAS RIETSCHEL

Wie wollen Sie den Unternehmen kurzfristig helfen?

Kretschmer: Die Unternehmen wollen kein Bittsteller sein, sondern mit mehr Freiheit aus der Krise kommen. Wir sollten uns dringend auf das Maß an Regulierung beschränken, zu dem uns die EU verpflichtet. Darüber hinausgehende Bürokratie – ich denke vor allem an das Lieferkettengesetz – muss zurückgeschnitten werden. In den neuen Ländern haben wir die besondere Situation, dass die Unternehmen häufig sehr klein sind. Wir brauchen mehr mittlere und große Unternehmen mit höherer Wertschöpfung. Deswegen sollten wir alles daran setzen, die Kriterien für die europäische Mittelstandsförderung anzupassen, damit auch Unternehmen mit deutlich mehr als 250 Beschäftigten davon profitieren.

Wie gewinnen Sie die nötigen Fachkräfte?

Kretschmer: Das ist eine Herausforderung für ganz Deutschland – wobei die neuen Länder wenig Erfahrung mit Fachkräftezuwanderung haben. Deswegen plädiere ich für einen neuen Ansatz, den wir auf der nächsten Ost-Ministerpräsidentenkonferenz besprechen wollen: Wir müssen zielgerichtet für die neuen Länder um Arbeitskräfte werben. Allein Sachsen – das ist eine Folge der demografischen Entwicklung – braucht bis zum Ende des Jahrzehnts bestimmt 100.000 Arbeitskräfte aus dem Ausland.

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In einem Papier für die CDU-Vorstandsklausur fordern Sie Vereinbarungen „mit ausgewählten Herkunftsstaaten“. Woher sollen die Fachkräfte für den Osten kommen?

Kretschmer: Wir wollen Zielregionen auswählen – etwa in Indien oder Vietnam. In diesen Regionen wollen wir dafür werben, dass Menschen nach Ostdeutschland kommen. Dort wollen wir auch Sprachkurse und eine deutsche Berufsausbildung anbieten. Vereinbarungen mit den Herkunftsstaaten sollen Hürden bei der Visavergabe oder der Anerkennung von Berufsabschlüssen beseitigen. Dafür brauchen wir eine konzertierte Aktion von Bund, Ländern, Kommunen und der Wirtschaft.

Nach welchen Kriterien wählen Sie die Herkunftsländer aus?

Kretschmer: Es muss eine Win-win-Situation sein. Länder mit einem Jugendüberschuss sind besonders prädestiniert. Wenn die beruflichen Perspektiven in der Heimat schlecht sind, steigt die Bereitschaft zur Veränderung. Und der Osten Deutschlands ist attraktiv. Wir haben Platz, wir haben günstige Mieten und eine wunderbare Kulturlandschaft. Der Osten ist der modernere Teil Deutschlands – gerade was die Infrastruktur angeht.

Wie ist es bei Ihnen um die Willkommenskultur bestellt?

Kretschmer: Wir haben eine große Willkommenskultur! Der vietnamesische Gemüsehändler ist hier anerkannt und willkommen, der libanesische Arzt und der indische Informatiker genauso. Und die Studierenden, die aus der ganzen Welt zu uns kommen, fühlen sich bei uns pudelwohl.

Plakate der AfD in Sachsen.
Plakate der AfD in Sachsen. © dpa | Robert Michael

Wirklich? Die fremdenfeindliche AfD ist in Sachsen auf dem Sprung zur stärksten Kraft, und es kommt immer wieder zu rechtsextremistischer Gewalt.

Kretschmer: Das ist sehr bitter. Wir werden nicht nachlassen im Kampf gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Wir brauchen das gemeinsame Verständnis, dass Fachkräftezuwanderung in unserem Interesse ist. Wenn Arbeitsplätze nicht besetzt sind, kann Wachstum nicht stattfinden. Wir brauchen diese Arbeitskräfte, um unser Wohlstandsniveau zu halten. Und wir werden sie nicht in Sachsen-Anhalt oder Thüringen finden.

Apropos heimisch werden: Soll den ausländischen Arbeitskräften erlaubt sein, ihre Familien mitzubringen?

Kretschmer: Es muss darum gehen, dass Einwanderung in Beschäftigung stattfindet. Wenn eine größere Gruppe von Menschen aus einer bestimmten Region kommt, wird das dazu beitragen, dass sie sich bei uns wohlfühlen. Wir sollten uns auf das Machbare konzentrieren.

Die Ampelkoalition will eine ganze Reihe von Anreizen für mehr Zuwanderung setzen – auch einen schnelleren Weg zum deutschen Pass. Unterstützen Sie das?

Kretschmer: Ich bin gegen Diskriminierung. Menschen, die hier leben, arbeiten und sich gut integrieren, sollen auch die Möglichkeit bekommen, deutsche Staatsbürger zu werden. Aber der deutsche Pass steht am Ende der Integration und nicht am Anfang.

Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer sind im vergangenen Jahr nach Deutschland geflüchtet. Welche Rolle können sie bei der Linderung des Fachkräftemangels spielen?

Kretschmer: Viele Flüchtlinge aus der Ukraine wollen in Deutschland bleiben. Sie besuchen Integrations- und Sprachkurse, haben eine Arbeit aufgenommen. Man sollte aber nicht erwarten, dass Menschen, die vor dem Krieg geflüchtet sind, unseren dramatischen Fachkräftemangel lösen.

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