Berlin. Experten warnen vor einem „Spiel mit dem Feuer“: Was in Saporischschja passieren muss, damit Europa einer Nuklear-Katastrophe entgeht.
Gelegentlich ist der Politik-Betrieb in Deutschland merkwürdig provinziell. Man könnte es auch Kirchturmpolitik nennen. Vor dem Hintergrund der globalen XXL-Energiepreiskrise streitet sich die Republik, wie intensiv die drei noch arbeitenden deutschen Atomkraftwerke weiterlaufen sollen. Diskutiert wurden der befristete „Weiterbetrieb“, „Streckbetrieb“ – also längere Stromproduktion mit vorhandenen Brennstäben – und „Reservebetrieb“.
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat sich für Letzteres entschieden, eine Bonsai-Option. Die Meiler würden dann abgeschaltet und bei Bedarf wieder hochgefahren. Das kann mehrere Wochen dauern, würde also in einem Strom-Notfall nicht helfen.
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Mit der „Einsatzreserve“ knickt Habeck vor der unruhigen grünen Basis ein
CDU und CSU warnen vor einem „Blackout“ im Winter, sollten die Kernreaktoren stillgelegt werden. Habeck verteidigt die Schmalspurlösung mit Blick auf Nuklear-Risiken und problematische Endlagerung. Der wahre Grund: Er hat als einstiger Bannerträger des ökologischen Wandels bereits viele Kröten schlucken müssen – von der Rückholung von Kohlekraftwerken bis hin zum verstärkten Import von Flüssiggas. Mit der „Einsatzreserve“ knickt er vor der unruhigen grünen Basis ein.
Das Kleinklein der deutschen Politik überdeckt eine viel größere Gefahr: Der ukrainische Atommeiler Saporischschja, rund 1650 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt, liegt an der Front des Ukraine-Krieges. Er ist der größte Reaktor Europas. Russland hat rund 500 Soldaten auf der Anlage stationiert. Fast täglich wird das Terrain des AKWs durch Raketen oder Granaten getroffen.
Die radioaktive Wolke von Tschernobyl wanderte auch nach Westen
Nuklearkraftwerk und Ukraine: Bei vielen löst das Assoziationen mit Tschernobyl aus. Im April 1986 kam es in dem damaligen Sowjet-Reaktor zu einer Kernschmelze. Die radioaktive Wolke wanderte auch nach Westen. Salatbeete, Pilze, die Sandböden von Kindergärten bekamen Strahlung ab.
Saporischschja ist zwar nicht mit Tschernobyl zu vergleichen. Im Gegensatz zum Katastrophen-Meiler hat Saporischschja eine stahlbewehrte Betonkuppel mit einer Dicke von eineinhalb Metern. Sie soll auch dem Absturz einer Militärmaschine standhalten, sagen Fachleute. Nach Angaben von Sebastian Stransky von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit hat Saporischschja den Standard von Reaktoren westlicher Bauart gleichen Alters.
Wird auch die Notfallstromversorgung gekappt, droht eine Kernschmelze
Das Problem von Saporischschja: Die Hauptleitungen zum Stromnetz der Ukraine sind infolge des Krieges beschädigt. Zeitweise wurden alle sechs Blöcke abgeschaltet. Strom fließt dann nur über eine Notfallversorgung aus einem benachbarten Wärmekraftwerk. Ist auch die eines Tages gekappt, gibt es keine Energie mehr für das Kühlwasser. Dann droht eine Kernschmelze mit furchtbaren Folgen.
Das muss unbedingt verhindert werden. Der Weckruf des Chefs der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), Rafael Grossi, sollte alle aufrütteln: „Wir spielen mit dem Feuer und etwas sehr, sehr Katastrophales könnte passieren“, mahnt er. Grossi spricht von einer „unhaltbaren“ Situation und fordert die Einrichtung einer „demilitarisierten Sicherheitszone“ rund um das Kernkraftwerk.
Länder wie China, Indien oder die Türkei sollten jetzt auf Moskau einwirken
Es könnte die große Stunde der Vereinten Nationen sein. Selbst wenn Russland den Abzug der eigenen Truppen vom Reaktorgelände durch ein Veto im UN-Sicherheitsrat torpedieren würde, wäre es nun an der Zeit, zusätzlichen diplomatischen Druck aufzubauen. Länder wie China, Indien oder die Türkei, die sich mehr oder weniger in einer Neutralitäts-Position verschanzt haben, sollten auf Moskau einwirken. Denn wenn Saporischschja brennt, ist keiner sicher. Es gäbe nur Verlierer.
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