Berlin. Blutgrätschen im Wahlkampf, frustrierte Genossen: Am Samstag stehen die neuen Parteichefs fest. Bei der Wahl geht es noch um viel mehr.

Olaf Scholz will in den folgenschwersten Tag seiner Karriere mit einer extralangen Joggingrunde starten. In Potsdam, wo er mit seiner Frau, der Brandenburger Bildungsministerin Britta Ernst, wohnt, gibt es entlang der Havel schöne Laufstrecken, um die Sinne freizubekommen. Was geht dem 61 Jahre alten Sozialdemokraten, der sich mit Klara Geywitz um die SPD-Spitze bewirbt, dabei durch den Kopf?

„Das Ende der Illusionen“ lautet der Titel eines Buches, das Scholz gerade verschlingt. Autor ist der Soziologe An­dreas Reckwitz. Dieser konstatiert, dass das Wohlstands- und Fortschrittsmodell sich überlebt habe und ein liberaler Staat wieder mehr Regeln setzen müsse. Dieser Befund lässt sich mühelos auf die ausgezehrte Volkspartei übertragen. Die SPD will sich links neu erfinden, weiß aber nicht, wie. Ist ausgerechnet Scholz, der gefühlt schon immer an der Spitze mit dabei war, dafür der Richtige?

Die Antwort haben 426.000 Parteimitglieder bereits gegeben. Zumindest jene, die mitgemacht haben und bis Freitag (23.59 Uhr) online ihre Stimme einsenden konnten. Schatzmeister Dietmar Nietan wird das Ergebnis der Stichwahl um den SPD-Vorsitz am Sonnabend gegen 18.00 Uhr im Willy-Brandt-Haus in Berlin-Kreuzberg verkünden.

Eine Niederlage für Scholz hätte Konsequenzen

Davon hängt ab, ob Scholz bald deutlich mehr Zeit zum Joggen hat – oder als Vizekanzler, Finanzminister, Parteichef und designierter Kanzlerkandidat ein noch größeres Rad drehen kann.

Auch die Kanzlerin dürfte zur „Sportschau“-Zeit den Fernseher lauter drehen oder auf das Smartphone starren, um nicht zu verpassen, was beim Koalitionspartner passiert.

Verliert das Team Scholz und steigt die SPD auf ihrem Parteitag im Dezember aus der GroKo aus, fällt die Weihnachtsruhe für Angela Merkel aus – Deutschland bekäme wohl erstmals eine Minderheitsregierung.

Scholz- Habe ein gutes Gefühl

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    Wer gewinnt? Wie sind die Prognosen?

    Das ist seriös nicht vorhersehbar. Es gab anders als bei Wahlen keine Befragungen der SPD-Mitglieder durch Umfrage­institute, da die Partei deren Daten für sich behält. Das Duo Scholz/Geywitz, das nach 23 Regionalkonferenzen den Vorentscheid mit 22,7 Prozent vor dem Team Norbert Walter-Borjans/Saskia Esken (21 Prozent) gewann, gilt intern als leicht favorisiert.

    Viele SPD-Promis, von Ministern bis zu Ministerpräsidenten, haben sich für die beiden ausgesprochen. Am deutlichsten wurde Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil. Die linke Bundestagsabgeordnete Esken habe Dinge von sich gegeben, „bei denen sich mir die Nackenhaare sträuben“. Diese Blutgrätsche pro Scholz könnte sich auch als Nachteil erweisen.

    An der SPD-Basis ist seit Langem das Gefühl verbreitet, das abgehobene „Esta­blishment“ habe den dramatischen Niedergang der Partei zu verantworten und verdiene einen Denkzettel. Scholz, der seit 18 Jahren im Vorstand ist und die SPD nach der Wahlpleite 2017 mit Andrea Nahles wieder in eine große Koalition führte, steht in den Augen seiner Kritiker für ein schlichtes Weiter-so.

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    Die Herausforderer, der frühere nordrhein-westfälische Finanzminister Walter-Borjans (Spitzname „Nowabo“) und die Digitalexpertin Esken, haben sich während des Mitgliederentscheids als Projektionsfläche für frustrierte Genossen angeboten. Im Lager eingefleischter GroKo-Gegner herrscht eine Art Brexit-Stimmung: Hauptsache raus. Was danach kommt, ist uns egal.

    Selbst Scholz-Fans warnen, den Ausgang der Stichwahl aus Sicht des Favoriten auf die leichte Schulter zu nehmen. Nicht nur beim Referendum der Briten über die EU-Mitgliedschaft, sondern auch beim Wahlsieg von Donald Trump in den USA lagen große Teile der politischen Klasse und der Medien mit ihren Prognosen daneben.

    Warum ist die Wahlbeteiligung wichtig?

    In der ersten Runde der Doppelspitzensuche waren sechs Teams angetreten. An der Abstimmung bis Ende Oktober beteiligten sich rund 53 Prozent der Mitglieder. In der SPD hofft man, dass dieser Wert in der Stichwahl zumindest wieder erreicht oder übertroffen wird.

    Eine Beteiligung von unter 50 Prozent wäre für die künftigen Vorsitzenden eine echte Hypothek. Eine geringe Wahlbeteiligung könnte dem Team Esken/Walter-Borjans helfen, da zum Beispiel deren Unterstützer von den Jusos ihre Anhänger traditionell stärker mobilisieren als andere Verbände.

    Umgekehrt könnte es einen Schub für Scholz und Geywitz geben, wenn eher strukturkonservative Mitglieder aus Verantwortungsbewusstsein diesem Duo ihre Stimme geben, um ein drohendes Abdriften der SPD in den Zustand der Nichtregierungsfähigkeit zu verhindern.

    Bei Umfragen zwischen 13 und 15 Prozent ist eine Neuwahl keine verlockende Perspektive. Walter-Borjans sagte allerdings unlängst unserer Redaktion, wenn Esken und er gewännen, könnte das für einen Befreiungsschlag in den Umfragen und einen Anstieg der SPD-Werte auf über 30 Prozent sorgen.

    Warum hängt das Schicksal der Koalition am SPD-Vorsitz?

    Scholz und Geywitz, die früher Generalsekretärin der Brandenburger SPD war, wollen die Koalition mit CDU und CSU bis 2021 fortsetzen. Gewinnen sie, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Parteitag am Nikolaus-Wochenende in Berlin der Empfehlung der neu gewählten Doppelspitze folgt. Triumphieren Esken/Walter-Borjans, dürften die Tage der großen Koalition gezählt sein.

    Esken hat sich auf einen „Groxit“ festgelegt, Borjans ist unentschlossen. Da das Duo von den Jusos und deren Chef Kevin Kühnert mitgetragen wird, könnten sich beide als Parteivorsitzende dem Druck wohl kaum entziehen. „Für uns ist klar: Am Nikolaus ist Groko-Aus“ – so brachte es Bayerns Juso-Chefin Anna Tanzer vergangene Woche bei ihrem Bundeskongress in Schwerin auf den Punkt.