Berlin. Es ist ein primitiver Reflex, den Rücktritt von Horst Seehofer für ein kollektives Fehlurteil zu fordern, erläutert Miguel Sanches.

An den Katastrophenschutz gibt es zwei Anforderungen: vorbeugen und reagieren. Feuerwehr, THW, Polizei und Bundeswehr waren beim Unwetter zur Stelle. Aber man kann schlechterdings nicht bestreiten, dass die betroffenen Menschen und Gemeinden eher unvorbereitet und nicht angemessen gewarnt waren.

Die Ergebnisse sprechen für sich: eine Schneise der Zerstörung durch Teile von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz nach Starkregen und Flut.

Miguel Sanches, Politik-Korrespondent
Miguel Sanches, Politik-Korrespondent © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Wir waren gewarnt. Die Wettervorhersagen zum Starkregen waren düster. In einigen Orten war man auf das Schlimmste gefasst. Aber die Menschen richten sich nach ihren Erfahrungswerten. Sie haben an Hochwasser gedacht, an überflutete Keller, nicht passierbare Straßen. Niemand verlässt Hals über Kopf Haus und Hof, nur weil eine App Unwetter meldet – und sei es Starkregen bedrohlichen Ausmaßes.

Man leert den Keller und sorgt mit einer Wasserpumpe vor. Wer in Flussnähe lebt, hat von Generation zu Generation gelernt, sich auf Risiken einzustellen und mit Gefahren wie mit falschen Alarmen (die werden in der Debatte verdrängt) umzugehen.

Was diesmal allerdings eintrat, war monströs. Eine verstörend neue Dimension, die alle Erfahrungswerte sprengte. Niemand hat exakt voraussagen können, dass der Ort Schuld verwüstet wird oder dass Teile von Erftstadt zu einem riesigen Schlund werden.

Menschen müssen eindringlicher gewarnt werden

Die Warnungen waren besorgniserregend, aber nicht exakt genug, nicht hinreichend begründet, nicht zwingend. Deswegen haben die Menschen ihre Häuser zumeist nicht verlassen. Man muss sie eindringlicher warnen, zumal sie nach diesem Unwetter auch genauer hinhören werden.

Es ist ein primitiver Reflex, wie die Linkspartei den Rücktritt von Innenminister Horst Seehofer für ein kollektives Fehlurteil zu fordern. Nur weil man an einem Bundesminister eher sein Mütchen kühlen kann als an unbekannten Landesministern.

Seehofer ist weder Teil der Lösung noch des Problems. Auf ihn kommt es nicht mehr an, weil er im Herbst ausscheidet und eine Reform des Bevölkerungs- und Katastrophenschutzes nicht im Belieben des Bundes liegt.

Der Katastrophenschutz ist Teil der allgemeinen Gefahrenabwehr und obliegt den Ländern. Der Bund greift ein, wo er um Amtshilfe gebeten wird. Der Zivilschutz ist die Aufgabe des Bundes im Spannungs- oder Kriegsfall. Das kann man gut oder auch schlecht finden. Erst einmal ist es eine Verfassungsrealität.

Erfahrungen zeigen, dass der Föderalismus verbessert werden sollte

Die Trennung wurde gerechtfertigt, um Mischkompetenzen zu vermeiden – eine eigentlich schlüssige Begründung, nämlich eindeutige Entscheidungsstrukturen zu schaffen. Aber die Erfahrungen in Ausnahmesituationen – in Großlagen bei Terroranschlägen, in der Pandemie oder beim Hochwasser – zeigen, dass der Föderalismus verbessert werden sollte. Wir brauchen vernetzte Strukturen und eine Bundesregierung, die alle PS auf die Straße bringen darf, personell, materiell.

Vielleicht öffnet sich im Affekt ein Zeitfenster, um die Kompetenzen von Bund und Ländern beim Katastrophenschutz neu auszutarieren oder gar das Grundgesetz zu ändern. Seehofer ist schon während der Pandemie gegen die Wand gelaufen. Erst jetzt könnte das Anliegen eines gemeinsamen Katastrophenschutzes in aller Dringlichkeit im Kanzleramt und bei den Ministerpräsidenten ankommen. Da gehört es hin.

Was 9/11 für die Flugsicherheit war, der NSU für den Verfassungsschutz und der Anschlag vom Breitscheidplatz für den Polizeiapparat, könnte die Verwüstung von Ahrweiler für den Katastrophenschutz sein: der Punkt, an dem Strukturen ins Rutschen kommen. Eine verzichtbare, gleichwohl schier unumstößliche Lebenserfahrung lautet: Es muss was passieren, damit was passiert.