Berlin. Andrij Melnyk war als Diplomat hart und herzlich. Unsere Redaktion hat ihn an seinem letzten Arbeitstag in Berlin besucht. Ein Rückblick.

Andrij Melnyk sitzt auf einem grünen Ledersessel seines Büros. An der Wand hängen Ölgemälde einer ukrainischen Winterlandschaft und einer Kirche in Kiew. Melnyk wirkt gelöst. Es ist sein letzter Tag als ukrainischer Botschafter in Berlin. Am Morgen hat er noch ein TV-Interview gegeben. Danach wird er sich von seinen Mitarbeitern verabschieden.

„Außerdem möchte ich heute noch meine zweite Corona-Auffrischungsimpfung bekommen“, sagt er. In der Nacht fährt er mit dem Auto zu seiner Mutter und Schwester im westukrainischen Lwiw, dann geht es weiter nach Kiew.

Am Dienstag oder Mittwoch, hofft Melnyk, Präsident Wolodymyr Selenskyj zu treffen. Er habe das Angebot, Vize-Außenminister zu werden, angenommen. „Ich könnte mir auch im Außenministerium einen völlig neuen Bereich vorstellen – etwa den Globalen Süden, Lateinamerika, Afrika oder Asien. Es würde mich reizen, dort für die Unterstützung der Ukraine zu werben“, fügt er hinzu.

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Andrij Melnyk wurde in Talk-Shows und Interviews zum Gesicht der Ukraine

Es hört sich an wie die Fortsetzung eines diplomatischen Routine-Programms. Melnyk, der wie kein zweiter in Talk-Shows oder Interviews zum Gesicht der Ukraine wurde, hat immer wieder die Lieferung schwerer Waffen an sein Land eingefordert. Er hat kräftig ausgeteilt gegen die deutsche Politik, die ihm nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine viel zu zögerlich war.

Doch es gibt Momente, da wackelt die Fassade des professionellen Diplomaten. Augenblicke, in denen deutlich wird, dass die Auftritte, der Dauer-Stress und die täglichen Bilder vom Krieg nicht spurlos an dem Botschafter vorübergehen.

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Bei Udo-Lindenberg-Songs muss er zehn Minuten lang weinen

Am Freitag, seinem letzten Arbeitstag in Berlin, wird der 46-Jährige im Auto von seinen Gefühlen überwältigt. Als er über seine Playlist auf dem Smartphone die Udo-Lindenberg-Songs „Wenn du durchhängst“ und „Durch die schweren Zeiten“ abspielt, muss er zehn Minuten lang weinen. „Meine Batterien sind fast leer. Eigentlich bräuchte ich eine Auszeit – aber die werde ich nicht bekommen“, meint er. „Die Zeit in Deutschland war für mich mehr als nur ein Superjob. Das war mein ganzes Leben.“

Melnyk, das kann man nach knapp acht Jahren Botschaftertätigkeit sagen, ist mit Vollgas durch das politische Berlin gefahren. Nach Kriegsbeginn am 24. Februar war er zunächst enttäuscht über die mangelnde Unterstützung der Bundesregierung. Doch mit der Zeit überschritt Melnyk Grenzen, die Diplomaten klassischerweise einhalten. Er appellierte und mahnte nicht mehr, er wählte die offene Feldschlacht.

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Melnyk führte einen emotionalen Mehrfrontenkrieg - auch in der Ukraine

Dabei machte er auch vor den höchsten Verfassungsorganen nicht halt – selbst nicht vor dem Bundespräsidenten. Als Frank-Walter Steinmeier im April eine Reise nach Kiew verweigert wurde und Bundeskanzler Scholz dies schmallippig rügte, beschimpfte Melnyk diesen als „beleidigte Leberwurst“. In deutschen Medien hagelte es Proteststürme von Lesern, Zuschauern und Usern.

Ein Startgerät des bodengebundenen Luftverteidigungssystems IRIS-T SLM steht auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung ILA auf dem Flughafen BER. Deutschland hat das erste System an die Ukraine geliefert, drei weitere sollen 2023 geschickt werden.
Ein Startgerät des bodengebundenen Luftverteidigungssystems IRIS-T SLM steht auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung ILA auf dem Flughafen BER. Deutschland hat das erste System an die Ukraine geliefert, drei weitere sollen 2023 geschickt werden. © dpa | Jörg Carstensen

Es war ein emotionaler Mehrfrontenkrieg. „Wann immer ich in Deutschland etwas gesagt habe: In den russischen Medien wurde ich sofort in den Schmutz gezogen. Ich bin der Lieblingsfeind der Kreml-Propaganda“, unterstreicht er. „‚Wegen Melnyk verliert die Ukraine in Deutschland ihre letzten Freunde‘, war das Haupt-Narrativ in Moskau. Die ukrainische Presse hat das dann oft unkritisch aufgegriffen. Manchmal war die Kritik dort noch heftiger als in Deutschland.“ Zum Teil habe sich auch die ukrainische Regierung über ihn beschwert.

„Mir gefällt die Rolle des biblischen Rufers in der Wüste“

Heute äußert sich Melnyk durchaus selbstkritisch. „Ich habe auch viele Fehler gemacht. Ich hatte manchmal unterschätzt, dass meine Äußerungen auch anders interpretiert werden konnten, als ich es gemeint habe. Das Interview mit Tilo Jung über Stepan Bandera war zum Beispiel so ein Fehler“, räumt er ein.

In dem Gespräch hatte Melnyk den umstrittenen ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera in Schutz genommen. Es war ein Stich ins Wespennest. Der polnische Vizeaußenminister Marcin Przydacz schäumte. Die israelische Botschaft in Berlin schickte eine bittere Rüge.

Dennoch steht Melnyk zu seinen lauten und gelegentlich schrillen Interventionen. „Mir gefällt die Rolle des biblischen Rufers in der Wüste. Ich musste schreien, poltern, trommeln, um für die Sache der Ukraine zu werben.“

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Dass er sich nicht von Kanzler Scholz persönlich verabschieden konnte, bedauert Melnyk

Doch Melnyk war nicht nur mit der verbalen Streitaxt unterwegs, er bohrte auch dicke Bretter. „Am meisten erfüllt mich mit Stolz, dass dank unseres Einsatzes Deutschland nun die modernen Luftabwehrsysteme Iris-T an die Ukraine liefert“, betont er.

Dass er sich nicht von Kanzler Scholz persönlich verabschieden konnte, bedauert Melnyk. „Ein einzelnes Gespräch – und seien es auch nur zehn Minuten – kann ja vieles bewirken“, sagt er.

„Ich habe die Sorge, dass Wladimir Putin irgendwann eine Art Ehrenpräsident wird“

Melnyk glaubt nicht, dass in Russland die Dinge eines Tages zum Besseren laufen. „Ich habe die Sorge, dass Wladimir Putin zwar irgendwann zur Seite geschoben und eine Art Ehrenpräsident wird. Dann kommt jemand mit einem freundlichen Gesicht und sagt: Ich bin das neue Russland“, mahnt er.

„Es wird auf den ersten Blick ein milderer Kurs avisiert, möglicherweise in Verbindung mit einem Teilrückzug aus der Ukraine. Aber es bleibt im Kern die imperialistische aggressive Putin-Politik mit einer anderen Fassade.“

Dies wäre der nächste große Test, so Melnyk. „Dann besteht im Westen die Versuchung, die Sanktionen aufzuweichen. Kommt es so, bin ich gespannt, wie Kanzler Scholz, die Ampelkoalition und die Opposition reagieren.“

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de.