Berlin. Die Kriegsgefahr steigt, die Diplomatie läuft auf Hochtouren: Die wichtigsten Akteure - und Interessen von Putin, Biden, Scholz & Co.

Der russische Truppenaufmarsch rund um die Ukraine geht weiter. Kann die Diplomatie einen Krieg noch verhindern? Kanzler Olaf Scholz war am Dienstag kaum zurück vom Besuch bei US-Präsident Joe Biden, da empfing er im Kanzleramt die Präsidenten von Frankreich und Polen, Emmanuel Macron und Andrzej Duda, zum Krisengespräch.

Macron war zuvor in Kiew und in Moskau bei Wladimir Putin. Den besucht Scholz nächste Woche. Hochzeit der Krisendiplomatie: Wer will was im Ukraine-Konflikt – mit welchen Chancen?

Putin, der Unberechenbare:

Im Kern will Putin das europäische Sicherheitssystem ändern: Er will die Westorientierung der Ukraine stoppen und sich eine russische Einflusszone in Osteuropa sichern - mit Pufferstaaten, in denen der Westen keine strategischen Einfluss hat und die sich mit eingeschränkter Souveränität nicht selbst ihre militärischen Bündnispartner aussuchen dürfen. Denn Moskaus Einfluss in der Region bröckelt, deshalb wird Putin nervös, deshalb fordert er jetzt, dass die Nato Soldaten aus ihren osteuropäischen Gebieten zurückzieht.

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Der russische Präsident Wladimir Putin.
Der russische Präsident Wladimir Putin. © AFP | ALEXEY NIKOLSKY

Die Ukraine spielt in dem Plan die zentrale Rolle, denn Russland hat deren Unabhängigkeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nie richtig akzeptiert. Ein prorussisches Regime in einer formal eigenständigen Ukraine passt am ehesten in Putins Plan. Ob der Kremlherrscher dafür tatsächlich einen Einmarsch plant oder nur hoch pokert, um Zugeständnisse des Westens zu erpressen, bleibt unklar. Putin bestreitet Kriegsabsichten, die USA sind zunehmend besorgt.

„Unberechenbarkeit ist ein wichtiger Teil der russischen Strategie“, sagt Margarete Klein, Osteuropa-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, die die Bundesregierung berät. „Man verneint Interventionsabsichten, droht zugleich aber mit militärischen Antworten.“

Putins Problem: Er hat zwar mehrere militärische Optionen, aber keine, die ihm das strategische Ziel einer prorussischen Ukraine garantiert - es sei denn die Besetzung des gesamten Landes, die aber enorm teuer, langwierig und verlustreich wäre. Putin müsste deshalb Interesse an einer gesichtswahrenden Verhandlungslösung haben. Ein Ausweg, der hinter den Kulissen sondiert wird: Mehr Mitsprache der prorussischen Separatisten im Donbass in der ukrainischen Außenpolitik - quasi ein Vetorecht gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine.

Biden, der Herausgeforderte:

Eigentlich will der US-Präsident den Rücken frei haben für das Kräftemessen mit China, die Ukraine-Krise kommt ihm sehr ungelegen. Aber der politisch angezählte Biden kann sich nach dem Afghanistan-Debakel keine zweite außenpolitische Niederlage erlauben: Auch deshalb ist es ausgeschlossen, dass die USA auf Putins Forderung nach einem Nato-Rückzug oder einer dauerhaften Absage an jede Nato-Erweiterung eingehen – es war ja Washington, das gegen Widerstände aus Europa der Ukraine zügig den Weg in die Allianz ebnen wollte.

US-Präsident Joe Biden.
US-Präsident Joe Biden. © AFP | BRENDAN SMIALOWSKI

Biden fährt zweigleisig: Er setzt mit harschen Sanktionsdrohungen und symbolischen Truppenverstärkungen in Osteuropa auf Abschreckung. Biden war aber auch bereit, ohne die Europäer direkte Gespräche mit Putin zu führen – erst verspätet hat er sich mit den Verbündeten abgestimmt. Und in seiner vertraulichen Antwort an Putin hat der Präsident offenbar signalisiert, dass er eine dauerhafte Stationierung von Kampftruppen und bodengestützten Raketensystemen in der Ukraine ausschließt, wenn Moskau entsprechende Verpflichtungen eingeht. Ein Gesprächsangebot über neue Rüstungskontrollverträge gehört dazu. Inzwischen ist Biden aber enttäuscht von Putins kompromissloser Haltung und räumt ein, dass er mit einem russischen Einmarsch rechnet.

Scholz, der Getriebene:

Die Ukraine-Krise kommt für Scholz zu früh, er genießt auf internationaler Bühne sichtbar noch nicht den Respekt, den sich seine Vorgängerin Angela Merkel erworben hatte. Scholz versucht nach vertrödelten Wochen und Kritik im In- und Ausland, jetzt doch ins Spiel kommen - in Washington, als Gastgeber in Berlin, in Kürze in Moskau und Kiew. Lesen Sie auch: Konflikt mit Russland: Kanzler Scholz muss jetzt endlich aufwachen

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Weißen Haus in Washington während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Präsident Joe Biden.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Weißen Haus in Washington während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Präsident Joe Biden. © dpa | Kay Nietfeld

Auch der Kanzler droht Putin mit Sanktionen, doch er muss umsichtig agieren: Die deutschen Interessen sind nicht ganz identisch mit denen der USA oder der osteuropäischen Bündnispartner, weder politisch noch wirtschaftlich: Deutschland würde zum Hauptleidtragenden von harten wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland gehören, wie sie jetzt von der EU und den USA vorbereitet werden.

Mit der umstrittenen Gaspipeline Nord Stream 2, in der Milliardengelder deutscher Unternehmen stecken, ist Berlin auch besonders verletzlich für russische Gegensanktionen. Als europäische Mittelmacht hat Deutschland im Verhältnis zu Russland mehr zu verlieren als die USA. Dem Kanzler sitzt zudem seine in Teilen besonders russlandfreundliche SPD im Nacken. Scholz braucht gute Nerven für seine Mission: Er wird als Newcomer im internationalen Geschäft von allen Beteiligten getestet - während er dringend alles für eine diplomatische Lösung tun muss, ohne sich zu sehr von den Bündnispartnern zu entfernen.

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Macron, der Ehrgeizige: Für ihn steht politisch viel auf dem Spiel: Kurz vor der Präsidentschaftswahl in Frankreich im April will sich Macron als Friedens-Vermittler profilieren. Die Rolle des europäischen Chef-Verhandlers fällt dem Staatschef durch die französische EU-Ratspräsidentschaft zu, Macron füllt aber auch das Führungsvakuum nach dem Abschied von Angela Merkel aus. Macron kann daran anknüpfen, dass er als Staatsoberhaupt der einzigen Atommacht der EU ohnehin für mehr Eigenständigkeit Europas wirbt - und das Spiel nicht Biden und Putin überlassen will.

Der Staatschef hat ein besonderes Verhältnis zu Putin, sie duzen sich, telefonieren etwa alle zwei Monate, 2019 empfing er ihn demonstrativ auf seinem Sommersitz an der Cote d´Azur, schlug einen Dialog für den Neubeginn der Beziehungen vor. Macrons Leute streuen, der Kremlherrscher halte den Franzosen derzeit für den einzigen in Europa, mit dem er intensivere Gespräche führen könne. Macron wirbt dafür, auch Putins Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron © AFP | Ludovic Marin

Doch hält der Präsident geschickt die Balance aus Putin-Verständnis und Drohgebärden. Früh kündigte er die Entsendung von Soldaten nach Rumänien und Bulgarien ankündigt und betont in Kiew, die Sicherheit der Ukraine sei nicht verhandelbar. Macrons Forderung nach Deeskalation und Dialog ist identisch mit dem Ansatz in Berlin.

Zusammen mit Scholz versucht der Präsident, zur Deeskalation das Normandie-Format mit der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich wieder zu beleben - jenes Gesprächsforum, bei dessen Taufe Angela Merkel die zentrale Rolle spielte. Die Erfolgsaussichten Macrons? Unklar. Nach Gesprächen in Moskau verkündete der französische Präsident, er habe eine Eskalation des Konflikts verhindern können. Putin habe zugesagt, dass es keine Verschlechterung geben werde, berichtete Macron: „Es ist noch Zeit, den Frieden zu retten“. Die Antwort aus Moskau ließ nicht lange auf sich warten: Eine Einigung über eine Deeskalation gebe es noch nicht.

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Xi, der lachende Dritte: Eigentlich verfolgt China eine Politik der Nichteinmischung in bewaffnete Konflikte, die russische Annexion der Krim hat Peking nie anerkannt. Auch im aktuellen Ukrainekonflikt hat Präsident Xi Jinping bislang eher interessiert zugeschaut, wie sich der Westen verhält - jetzt steht diese Neutralität in Frage, Peking stärkt Putin den Rücken und lehnt künftige Nato-Erweiterungen ab. Der Grund: Erstens ist aus Pekings Sicht alles, was den Rivalen USA von der Auseinandersetzung mit China ablenkt, nützlich.

Und zweitens könnte ein strategischer Erfolg Moskaus in der Ukraine ein Modell auch für ein Vorgehen der Volksrepublik gegen Taiwan sein; schon jetzt testet Xi erkennbar, wie die USA auf Provokationen in der Region reagieren. Zu verlieren hat Peking im Ukrainekonflikt nichts: Das schwächere und rückwärtsgewandte Russland ist viel stärker auf das immer dominantere China angewiesen als umgekehrt. Das gilt noch mehr für den Fall, dass Russland durch westliche Sanktionen isoliert wird.

Selenskyi, der Unbeugsame: Die ukrainische Führung sieht sich seit 2014 in einem militärischen Konflikt, seit der Annexion der Krim durch Russland und der Errichtung sogenannter Volksrepubliken im Donbass durch prorussische Separatisten. Die Kampfhandlungen im Donbass zwischen den von Russland unterstützten Separatisten und dem ukrainischen Militär haben rund 13.000 Menschenleben gekostet. Beide Seiten verstoßen gegen die Waffenstillstandsvereinbarungen im Minsker Abkommen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj © dpa | Efrem Lukatsky

Vor diesem Hintergrund zeigt sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi furchtlos. Anders als von Moskau erwartet hat der Konflikt den Wunsch der Ukraine nach einem Beitritt zur Nato und zur EU noch verstärkt. Selenskyi bemüht sich jetzt einerseits, die Warnungen aus dem Westen vor einem russischen Angriff herunterzuspielen, um Panik in seinem Land zu verhindern.

Andererseits drängt jetzt massiv auf Hilfe des Westens: Dazu gehören umfangreiche Waffenlieferungen ebenso wie eine Beitrittsperspektive zur Nato oder - mit Blick auf Deutschland - der Stopp der Gaspipeline Nord Stream 2. Allerdings gibt es im Westen auch die Erwartung, dass Kiew sich stärker für die Einhaltung des Minsker Abkommens engagiert.

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