Berlin. Hunderttausende Menschen fliehen wegen des drohenden Krieges mit Russland aus der umkämpften Ostukraine. Was kommt auf Deutschland zu?
Das Kind streckt den Arm in Richtung Kamera. Die kleinen Finger umschlingen Munition, Kugeln aus Schnellfeuerwaffen, Splitter von Geschossen. Es ist ein Foto, das die ganze Wucht des Konflikts zeigt, der seit vielen Jahren im Osten der Ukraine herrscht. Und der jetzt zu eskalieren droht. Kinder sammeln die Spuren des Krieges von der Straße.
Das Bild kommt von der Hilfsorganisation „SOS-Kinderdörfer“, die seit Jahren in den umkämpften Provinzen Lugansk und Donezk Pflegefamilien versorgen, und den Kindern helfen, die kein Zuhause hatten. Auf beiden Seiten, der ukrainischen Region, und der Region, die von pro-russischen Milizen besetzt gehalten wird, ist die Organisation im Einsatz.
Doch brisant, so sagt es der ukrainische nationale Direktor der „SOS-Kinderdörfer“, Serhii Lukashov, ist es aktuell vor allem auf der ukrainischen Seite der Front. Jetzt, erzählt Lukashov am Telefon, müssen sie die Kinder und die Familien aus den Dörfern und Kleinstädten der ukrainischen Seite der Konfliktlinie retten. Dort schlagen Granaten ein, dort donnert das Artilleriefeuer.
Oft nicht heftig, aber permanent. „Gerade jede Minute“, sagt Lukashov. „Das Feuer trifft Häuser, es kann Autos treffen, in den Balkon einschlagen oder in Gärten.“ Es sei für die Menschen auf der ukrainischen Seite der Frontlinie nicht sicher nach draußen zu gehen. Schon gar nicht für Kinder.
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14.000 Menschen sind in dem Konflikt seit 2014 bereits getötet worden
Die Mitarbeiter der „SOS-Kinderdörfer“ in der Ukraine arbeiten auch in Nachbarschaften direkt an der Frontlinie. Ein Elektrizitätswerk sei schon getroffen worden, eine Pumpstation für die Wasserversorgung, viele Häuser, sagt Lukashov. Seit 2014 sind nach offiziellen Angaben rund 14.000 Menschen im Krieg zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee getötet worden. Laut ukrainischer Regierung mehr als 200 Kinder. Im Konfliktgebiet in der Ostukraine haben internationale Beobachter in den vergangenen Stunden mehr als 1000 Explosionen registriert. Die Zahlen sind seit Tagen hoch.
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Der Krieg in der Ukraine ist eskaliert, Russland will massenhaft Truppen entsenden. Wie weit Putins Panzer rollen, ist bisher offen. Doch die Szenarien, mit denen Fachleute rechnen, werden immer düsterer. Das gilt auch für die Flüchtlings-Frage.

Vor allem nach Polen sind schon viele Menschen geflohen
Die EU-Kommission geht davon aus, dass bei einem Krieg zwischen 20.000 und mehr als einer Million Ukrainer in der Europäischen Union Schutz suchen würden. Das ist eine vage Schätzung, die vor allem eines aussagt: Auch in der EU weiß niemand, was genau passieren wird in den kommenden Tagen und Wochen.
Mehr als 100 Kinder und ihre Pflegeeltern haben Serhii Lukashov und sein Team bereits vor einigen Tagen aus der Region gerettet, sie in Züge gesetzt, die noch fahren und in den Westen des Landes gebracht, in die Region um die Metropole Lwiw.
Im Westen des Landes leben die Pflegefamilien und ihre Kinder in Hotelzimmern, die von der Organisation gebucht und bezahlt werden. Denn auch in der Hauptstadt Kiew, so sagt es Lukashov, sei die Situation zu wenig berechenbar, die Kriegsgefahr zu groß.
Auch die Bundesregierung rechnet mit starken Fluchtbewegungen in Europa, sollte der Krieg weiter eskalieren. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte, dass sich Deutschland derzeit vor allem darauf vorbereite, den Ländern um die Ukraine mit humanitärer Unterstützung zu helfen. „Und wenn Flüchtlinge in unser Land kommen, denen natürlich auch.“
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Vor allem nach Polen sind viele Menschen aus der Ukraine geflohen
Vor allem nach Polen sind viele Menschen geflohen. Seit 2014 kamen bis zu einer Million Ukrainerinnen und Ukrainer. Viele suchten dort einen Neuanfang. Viele sind geblieben. Zwischen der EU und der Ukraine herrscht Visafreiheit, die Menschen mit ukrainischen Pässen erlaubt, sich bis zu drei Monate in einem EU-Staat aufzuhalten.
Die polnische Regierung, die sonst bei der Aufnahme von Geflüchteten aus Nahost wenig Einsatz zeigt, hilft den Menschen aus dem Nachbarland Ukraine bisher so stark, wie kein anderes europäisches Land. Die Regierung erleichterte sogar den Zugang zum Arbeitsmarkt. Und kündigte an, weitere Geflüchtete jetzt in der Kriegslage aufzunehmen und auch Polnisch-Kurse und psychologische Hilfe anzubieten.
Auch das östliche EU-Land Rumänien geht voran, könne mehr als eine halbe Million Menschen aufnehmen. Rumänien hat eine 650 Kilometer lange Grenze mit der Ukraine. Ungarns Grenze zur Ukraine ist wesentlich kleiner. Das Land hat sich bisher in der EU gegen Aufnahme von Flüchtlingen abschottet. Ungarns Verteidigungsminister kündigte nun die Verlegung von Soldaten an die ungarisch-ukrainische Grenze an. Die Soldaten würden einerseits mit humanitären Aufgaben betraut und sollten andererseits sicherstellen, dass „keine bewaffneten Gruppen in das Staatsgebiet eindringen können“.
Auch nach Russland fliehen die Menschen aus der Ostukraine
Auch nach Russland fliehen offenbar zahlreiche Menschen. „In den vergangenen 24 Stunden haben mehr als 20.000 Bürger, die aus dem Gebiet der Donbass-Republiken evakuiert wurden, die Grenze über Kontrollpunkte überquert“, teilte der Inlandsgeheimdienst FSB mit.
Und in Deutschland? Bisher kommen keine nennenswerten Zahlen an Geflüchteten an. Die Bundespolizei registriert keine Bewegungen an der polnischen Grenze, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nur einen leichten Anstieg der Asylzahlen auf niedrigem Niveau. Dennoch stehen Bund und Länder nach eigenen Angaben in Kontakt.
Es geht darum, im Fall eines Krieges mit größerer Zahl an Flüchtlingen, die Aufnahmekapazitäten schnell zu erhöhen: Versorgung, Erstaufnahmeeinrichtungen, Registrierung. Der Städte- und Gemeindebund rechnet nach Angaben des „Handelsblatt“ damit, dass mögliche Geflüchtete nicht nur nach Polen, sondern mittelfristig auch in andere EU-Länder wie Deutschland kommen. Zur Koordination möglicher Hilfe stehe man zudem mit mehreren EU-Staaten, darunter auch die baltischen Staaten, sowie mit der Europäische Kommission in Kontakt, heißt es von Seiten der Bundesregierung.
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Noch immer sind Zehntausende Kinder in der Ostukraine vom Krieg gefährdet
Doch bisher leben die Flüchtlinge aus dem Osten der Ukraine vor allem in der Krisenregion selbst, in Einrichtungen im Westen des Landes, in der Hauptstadt Kiew, in Unterbringungen etwas entfernt der Frontlinie.
Die Kinder aus dem Osten der Ukraine seien oft traumatisiert von den Jahren der Kämpfe, sagt Serhii Lukashov von „SOS-Kinderdörfer“. Der Krieg habe ihre Seelen belastet, sagt er. Viele seien still, in sich gekehrt, emotional schwer zu erreichen. Und noch immer harren noch viele Kinder in der Kriegszone aus.
Im Westen, dort, wo es derzeit noch sicher ist, bekommen die Kinder psychologische Betreuung, aber auch Ablenkung, etwa von einer Hilfsgruppe an Ärzten, die sich als Clowns verkleiden. „Wir versuchen vor allem auch die Pflegeeltern in dieser Ausnahmesituation zu stabilisieren.“ Sie seien der Schlüssel dafür, dass es auch den Kindern im Krieg besser geht.