Berlin/Brüssel. Russische Panzertruppen vor der ukrainischen Grenze, bereit zum Angriff. Kanzler Scholz reist in Krisenmission nach Kiew und Moskau.

Der russische Truppenaufmarsch an den Grenzen der Ukraine geht in rasantem Tempo weiter, ein Angriff kann jederzeit beginnen. Immer mehr Einheiten werden jetzt aus ihren Stellungen in der Region ganz dicht an die Grenze verlegt. In diesem brenzligen Moment fliegt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu Krisengesprächen in die Ukraine und dann nach Russland – mit einem ehrgeizigen Plan, die Krise zu entschärfen.

Dabei sind die letzten Nachrichten vom Ukraine-Konflikt beunruhigend, sie scheinen die Warnungen der US-Regierung vor einem bevorstehenden Angriff noch diese Woche, womöglich am Mittwoch, zu bestätigen. So stehen T-80-Panzer der 1. Garde-Panzerarmee, einer Moskauer Elitetruppe, nur noch 15 Kilometer vor der ukrainischen Grenze in Belgograd. Dorthin wurden auch Kampfhubschrauber und Kurzstreckenraketen-Systeme vom Typ Ikander zusammengezogen, wie unabhängige Militärbeobachtungs-Stellen berichten.

Von Belgograd sind es nur 80 Kilometer in die strategische wichtige Stadt Charkow im Nordosten der Ukraine. Ins russische Klinzy, 20 Kilometer von der Grenze entfernt und möglicher Ausgangspunkt für eine Offensive auf Kiew, wurde die 4. Panzerarmee verlegt. Ähnliche Berichte, teils sogar mit Videoaufnahmen, gibt es von anderen Teilen der russisch-ukrainischen Grenze. Und im Schwarzen Meer sind 30 russische Kriegsschiffe unterwegs, darunter 13 Landungsschiffe – offiziell geht es um ein Großmanöver.

Bundesregierung: Lage in der Ukraine „extrem gefährlich“

Insgesamt stehen nach ukrainischen Geheimdienstinformationen über 140.000 russische Soldaten nördlich, östlich und südlich der Ukraine – knapp hundert der insgesamt 170 taktischen Bataillonsgruppen (BTG) der russischen Armee befinden sich jetzt in der Region, mit Panzern, Kampfflugzeugen, Raketenwerfern, Raketenabwehrsystemen, Feldlazaretten und Militärpolizei. Ein ranghoher Nato-Militär in Brüssel sagt: „Es läuft ab wie im Lehrbuch des russischen Generalstabs – sie stellen deutliche Überlegenheit in der Region her, dazu kommen Abschreckungssignale an den Westen mit einer gleichzeitigen nuklearen strategischen Übung.“

Weiterhin ist unklar, ob der russische Präsident tatsächlich den finalen Marschbefehl gibt – oder ob Wladimir Putin blufft und der Truppenaufmarsch Teil einer Strategie ist, um die Ukraine und den Westen zu verunsichern und unter Druck zu setzen. Sicherheitshalber haben inzwischen 30 Staaten ihre Bürger aufgerufen, die Ukraine sofort zu verlassen, darunter auch Deutschland.

In dieser heiklen Lage reist Kanzler Olaf Scholz in die Ukraine und nach Moskau zu Präsident Putin. „Extrem gefährlich“ sei die Situation, heißt es in der Bundesregierung. Aber während das Auswärtige Amt alle Deutschen dazu aufruft, die Ukraine zu verlassen, gibt sich Scholz entschlossen: „Jetzt ist nicht die Stunde der Resignation. Im Gegenteil, der Kanzler will einen Beitrag zur Entschärfung leisten“, erklärten Regierungskreise unmittelbar vor der Reise. „Dafür will er sein Bestes geben.“

So läuft der Scholz Besuch in der Ukraine ab

Scholz wird am Montag mittag in Kiew eintreffen, als erstes einen Kranz am Grab des Unbekannten Soldaten niederlegen und für eine Gedenkminute das Denkmal der Himmlischen Hundertschaft für die Toten des Volksaufstandes von 2014 besuchen. Dann folgt ein mindestens zweistündiges Treffen mit Präsident Wolodymyr Selenskyi – erst unter vier Augen, danach im erweiterten Kreis.

Kein leichtes Gespräch, aus der Ukraine waren zuletzt heftige Vorwürfe an Berlin laut geworden, zugleich übermittelte die Kiewer Regierung eine umfangreiche Waffen-Wunschliste. Scholz hat keine Zusage im Gepäck, Selenskyi dürfte enttäuscht sein: Die Waffenliste werde noch geprüft, hieß es vor der Abreise in Regierungskreisen. Versprechen will Scholz aber einen Ausbau der Wirtschaftshilfe. Am Nachmittag fliegt der Kanzler nach Berlin zurück.

So läuft der Scholz-Besuch in Moskau ab

Am Dienstag folgt für Scholz der schwierigste Termin seiner bisherigen Amtszeit: Antrittsbesuch bei Putin im Kreml, der dominiert wird von der Ukraine-Krise.

Bundeskanzler Olaf Scholz mit seiner Vorgängerin Angela Merkel am Rande der Bundespräsidenten-Wahl. Zur Vorbereitung seiner Moskau-Reise hatte sich Scholz auch Rat bei Merkel geholt.
Bundeskanzler Olaf Scholz mit seiner Vorgängerin Angela Merkel am Rande der Bundespräsidenten-Wahl. Zur Vorbereitung seiner Moskau-Reise hatte sich Scholz auch Rat bei Merkel geholt. © dpa | Wolfgang Kumm

An Putins harter Haltung hatten sich am Wochenende die Präsidenten der USA und Frankreichs, Joe Biden und Emmanuel Macron, die Zähne ausgebissen. Beide telefonierten mit dem Kremlherrscher, um ihn von einem Ukraine-Angriff abzubringen, sie erreichten aber offenbar nichts. Das US-Verteidigungsministerium erklärte später, das Telefonat gebe keinen Anlass zu Optimismus. Es fehle jedes Zeichen, dass sich die Dinge in die richtige Richtung bewegen, sagte Pentagon-Sprecher John Kirby. Putin zeige keine Absicht zur Deeskalation.

Scholz will es trotzdem versuchen. Zur Vorbereitung hat er sich mit Kanzlerin Angela Merkel besprochen – sie kennt Putin schließlich besser als jeder amtierende westliche Regierungschef. Am Sonntag ließ sich Scholz auch von Macron über dessen Gespräche mit Putin informieren. Der Kanzler wird in Moskau erstmal an der Kreml-Mauer am Grabmal des Unbekannten Soldaten einen Kranz niederlegen. Dann ist ein ausgiebiges Gespräch mit Putin geplant, fortgesetzt beim Mittagessen. Vorgesehen ist danach eine gemeinsame Pressekonferenz – die weltweit mit Spannung erwartet werden dürfte.

So will Scholz mit Putin reden

Scholz wird nach Angaben aus Regierungskreisen Putin deutlich machen, dass der Westen im Fall einer Invasion sehr geschlossen reagieren wird. Er will aber auch die Bereitschaft betonen, über russische Sicherheitsbesorgnisse zu sprechen. Möglicherweise erinnert Scholz daran, dass die Ukraine in absehbarer Zeit kein Nato-Mitglied werden wird. Doch weiter kann und will der Kanzler nicht gehen, ein Aufnahmemoratorium für die Ukraine wird Scholz nicht zusagen, heißt es in Berlin zu entsprechenden Spekulationen. „Es gibt die Politik der offenen Tür der Nato. Sie ist uns Verpflichtung“, versicherten Regierungskreise im Vorfeld.

Scholz erwarte vom Treffen bei Putin keine konkreten Ergebnisse hinsichtlich der Ukraine, dämpften Regierungskreise die Erwartungen, aber die Gespräche seien trotzdem wichtig. Der russische Truppenaufmarsch könne nur als Drohung verstanden werden.

Putin nennt die Warnungen vor einem Angriff dagegen „provokative Spekulationen“. Sein Berater Juri Uschakow sagte: „Die Hysterie hat ihren Höhepunkt erreicht“. Moskau spricht von einer „Propaganda-Kampagne“. Allerdings: Auch Russland verringert jetzt sein diplomatisches Personal in Kiew, begründet das mit „möglichen Provokationen“ der Ukraine.

Ukrainische Soldaten entladen auf dem Flughafen von Kiew eine Lieferung mit amerikanischen Stinger-Raketen.
Ukrainische Soldaten entladen auf dem Flughafen von Kiew eine Lieferung mit amerikanischen Stinger-Raketen. © AFP | SERGEI SUPINSKY

Parallel gehen die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine weiter. Aus Litauen trafen am Sonntag Luftabwehrraketen vom Typ Stinger ein – jene Waffen, mit deren Vorläufern schon vor 40 Jahren die von den USA ausgestatteten Mudschaheddin erfolgreich gegen die russische Besetzung Afghanistans kämpften. Außerdem landete ein weiteres US-Transportflugzeug mit Granatwerfern und weiteren Rüstungsgütern in Kiew – insgesamt 17 Militärmaschinen haben die USA in den vergangenen Wochen in die Ukraine geschickt, an Bord insgesamt 180 Tonnen militärische Ausrüstung und Munition.

Angesichts des russischen Truppenaufmarschs hatte die Ukraine auch bei der Bundesregierung Flugabwehr-Raketensysteme, Anti-Drohnen-Gewehre, elektronische Ortungssysteme, Nachtsichtgeräte sowie Munition angefordert. Die Bundesregierung bleibt aber dabei, dass sie grundsätzlich keine „letalen Waffen“ in Krisengebiete liefert.

Auf der ukrainischen Liste sei jedoch „das ein oder andere, was man sich genauer angucken kann“, hieß es kurz vor der Scholz-Reise nach Kiew aus Regierungskreisen. Dabei gehe es jedoch auch „um die Frage der tatsächlichen Verfügbarkeit“. Es sei so, „dass bei der Bundeswehr im Moment nichts übrig ist. Da liegen jetzt nicht tausend Nachtsichtgeräte herum, die nicht gebraucht werden“.

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