Ukraine-Krieg

Nahe Bachmut: 16 Stunden im Lazarett an der Ukraine-Front

Jan Jessen (Text) und Reto Klar (Fotos)
| Lesedauer: 8 Minuten
Ukraine: Auf Frontbesuch bei der deutschen Panzerhaubitze

Ukraine- Auf Frontbesuch bei der deutschen Panzerhaubitze

Unsere Reporter haben die Panzerhaubitze 2000 im Einsatz gesehen und sprachen mit Soldaten, die sie nutzen.

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Oblast Charkiw.  Unsere Reporter haben ein Militärkrankenhaus nahe der Front in der Ukraine besucht. So haben sie den Alltag der Soldaten dort erlebt.

Die Betten im Krankenzimmer sind dicht aneinandergestellt. Das Fenster ist mit schwarzer Folie verklebt, es ist ein Schutz gegen Splitter, falls ein Geschoss in der Nähe einschlagen sollte. Die Folie dient auch der Verdunkelung. Sechs Soldaten liegen in dem Raum, manche haben Verbände um die Arme oder die Beine. An einer Garderobe hängen ihre Flecktarnjacken mit den Aufnähern ihrer Einheiten. An den Wänden kleben Kinderzeichnungen, Panzer sind darauf zu sehen und Raketen. Von der Decke baumeln Luftballons.

Die Luft ist stickig. Es riecht nach Schweiß, Desinfektionsmittel, Bohnerwachs, Essen. „Unsere wichtigste Aufgabe hier ist, die Männer mental zu stabilisieren, damit sie wieder an die Front gehen können“, sagt Oberstleutnant Viktor Pysanko. Der 35-Jährige ist der Leiter des Krankenhauses im Osten der Ukraine.

Ukraine-Krieg: Mit dem Bus quer durch das kriegsversehrte Land

Vor dem Krankenhaus steht ein großer Bus, lackiert in Rot und Weiß, er ist zwölf Stunden zuvor an der ukrainischen Grenze gestartet. Es ist ein zur Ambulanz umgebauter Reisebus der norwegischen Hilfsorganisation „Team Humanity“, die seit dem Beginn des russischen Überfalls im vergangenen Februar Menschen aus den umkämpften Gebieten im Süden und Osten herausholt. In dem Bus können Schwerverletzte transportiert werden. „Wir sind gebeten worden, verletzte Soldaten in ein Krankenhaus zu bringen“, erzählt Salam Aldeen, der Leiter der Hilfsorganisation, der in Berlin lebt.

Aldeen ist ein rastloser, getriebener Mann mit einer rauen Stimme, der wenig Schlaf braucht. Etwa 14.000 Menschen haben sie in den vergangenen Monaten gerettet. Von der Grenze aus ist der Bus quer durch das kriegsversehrte Land gefahren. Odessa. Mykolajiw. Dnipro. Immer näher heran an die Front. Wo genau die Reise endet, wo das Krankenhaus liegt, das er schließlich erreicht, darf aus Sicherheitsgründen nicht geschrieben werden. Rund 16 Stunden sind wir dort und können mit Ärzten und Patienten sprechen.

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Es wird nicht viel gelacht

Die Kleinstadt ist etwa 90 Kilometer entfernt von der Front. Die heftigen Artilleriegefechte dort sind als konstantes Wummern zu hören. Es ist eiskalt an diesem Januartag. Das Krankenhaus ist ein vierstöckiges weiß-graues Backsteingebäude, gebaut in den siebziger Jahren, es hat bessere Zeiten gesehen. Vor der Klinik stehen zivile Ambulanzwagen und alte dunkelgrüne Laster des Militärs mit einem Kreuz darauf. Auch sie bringen Verletzte hierher.

Vor dem Krankenhaus stehen Männer und rauchen. Die meisten tragen Uniformjacken, darunter Jogginghosen, Pullover, Schlappen. Manche reden mit sich selbst, andere reden miteinander. Alle wirken müde. Es wird nicht viel gelacht. Drinnen herrscht geschäftiges Gewusel. In den Gängen stapeln sich Matratzen, Decken und Kleidung, es sind Spenden der lokalen Bevölkerung. In einem Raum liegen kreuz und quer Krücken und Rollstühle.

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Kinder, Kirchenvertreter und Sänger sollen die verwundeten Soldaten aufmuntern

„Wir sind hier nach den Feldlazaretten die zweite Linie der medizinischen Versorgung“, erklärt Viktor Pysanko, der Leiter des Krankenhauses. Mit ihm sind hier vier weitere Offiziere stationiert, die anderen Pfleger und Ärzte haben schon vorher hier gearbeitet oder sind Freiwille. Bis vor einem Monat war es eine zivile Einrichtung. Jetzt liegen hier nur verwundete Soldaten, 200 sind es heute. Pysanko sagt, er habe das Krankenhaus in Eigenregie in den Kriegsbetrieb umgestellt, finanziert wird das aus privaten Spenden.

„Mir ist es wichtig, die Gemeinde in die Betreuung der Verletzten einzubinden. Dieser Krieg ist ein Krieg der Nation“, sagt der Offizier, der früher für die Vereinten Nationen im Kongo als Arzt gearbeitet und bei den ukrainischen Luftlandetruppen gekämpft hat. In das Krankenhaus kommen Kinder, Kirchenvertreter oder Sänger. Die einen, um die Männer aufzuheitern, die anderen, um ihnen geistigen Beistand zu geben. Die Kinder kommen und malen den Soldaten Bilder oder schreiben ihnen Briefe, „damit die Männer wissen, wofür sie kämpfen“, erzählt Pysanko. „Wir kämpfen für unsere Freiheit und die Zukunft dieser Kinder.“ Er sagt: 80 Prozent derjenigen, die von der Front kommen, wollen nicht mehr zurück. „Wenn wir sie motiviert haben, kehren 80 Prozent zurück.“

Im ersten Stock sitzt Lubow an ihrem Platz. Sie ist 64 und arbeitet schon seit fast vierzig Jahren als Krankenschwester in dem Haus. Ihren Nachnamen will sie nicht nennen. Als der Krieg begann, mussten sie in der Kleinstadt wegen der Bombardierungen ständig in Kellern sitzen, erzählt die kleine Frau mit den schwarz gefärbten Haaren. „Das war sehr hart.“ In einer Kladde dokumentiert sie handschriftlich die Namen der Neuankömmlinge, sie misst ihren Blutdruck und ob sie Fieber haben. „Ich weiß, sie schützen unsere Heimat“, sagt sie. „Aber ich finde es schlimm, wenn sie wieder an die Front zurückmüssen. Sie sind wie meine Kinder.“ Liebevoll mahnt sie sie: „Bitte bleibt am Leben.“

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Hunderte werden jeden Tag verletzt oder sterben

Wie viele ukrainische Soldaten seit dem Beginn von Putins Krieg verletzt wurden oder gefallen sind, ist unklar. Genaue Zahlen veröffentlicht das ukrainische Verteidigungsministerium nicht. Doch allein in der Schlacht um Bachmut sollen es Hunderte sein. Jeden Tag. In dem Krankenhaus landen nur die, die nicht schwerstverletzt sind. Sie behandeln hier Schusswunden, Schrapnell-Verletzungen, Erfrierungen, Männer, die sich bei Unfällen Arme oder Beine gebrochen haben. Allein hier haben sie bereits etwa tausend Männer versorgt. Soldaten mit heftigeren Verletzungen werden in die größeren Städte gebracht. Hier haben sie nur einen Operationssaal.

In den Krankenzimmern mit den mintgrün gestrichenen Wänden liegen die verletzten Soldaten auf alten Matratzen. „Die Versorgung ist hier gut“, sagt einer und lacht, „das Essen ist viel besser als an der Front.“ Er ist Mitte vierzig, hat einen Sieben-Tage-Bart und einen Verband um sein Bein. „Da hat mich ein Schrapnell getroffen“, sagt er, „aber es geht schon wieder.“ Wenn er zurück an der Front sei, „dann werde ich das den Russen zurückzahlen“. Er grinst wieder, macht ein Victory-Zeichen. Auch die anderen versuchen, Siegeswillen zu zeigen. Es gelingt nicht allen.

Die Augen der Soldaten starren ins Leere

Am nächsten Morgen kommt ein Bus an, ursprünglich weiß, jetzt voller grauer und brauner Schlieren, die Fenster sind blind vor Staub. Soldaten steigen aus, viele hinken, manche müssen gestützt werden. Sie kommen gerade von der Front bei der seit Monaten heftig umkämpften Stadt Bachmut, ihre Uniformen sind verdreckt. Sie sind erschöpft. Ihre Augen starren ins Leere. Kaum einer sagt etwas. Sie steigen in den Bus des „Team Humanity“ um, der sie in ein anderes Krankenhaus in der Nähe bringt. Hier ist kein Platz mehr für sie.

Viktor Pysanko schaut sich an, wie die Männer umsteigen. Er sieht müde aus. „Es macht keinen Sinn, eine zerstörte Stadt wie Bachmut zu halten, wenn wir noch mehr Leben opfern müssen“, sagt er schließlich. „Wir verlieren da unsere Besten. Wir müssen doch Leben retten.“ Er will die Männer motivieren zu kämpfen. Aber es sollte ein Kampf sein, der nicht sinnlos ist.

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