Berlin. Iwan Fedorow wurde als Bürgermeister der ukrainischen Stadt Melitopol entführt – jetzt ist er wieder frei und fordert mehr Waffen für sein Land.

Der Mann wirkt gestresst. Das liegt nicht nur an seinen müden Augen oder daran, dass er 20 Minuten später erscheint als angekündigt. Für Iwan Fedorow jagt aktuell ein Termin den nächsten. Am Freitagmorgen, Tag 58 des Krieges, sitzt er in einem Raum in der ukrainischen Botschaft in Berlin. Über der schwarzen Weste trägt er eine militärgrüne Fleecejacke mit ukrainischer Flagge auf dem linken Arm. Auf dem Tisch vor ihm liegen zwei Smartphones, die er immer wieder bedient.

Mit aufgebrachter Stimme sagt er: "Deutschland führt die EU in vielerlei Hinsicht an, aber schafft es nicht, bei der Unterstützung der Ukraine Führung zu übernehmen. Ich verstehe das einfach nicht."

Bürgermeister von Melitopol: "Ich hörte die Schreie"

Fedorow, gut 1,85 Meter groß, athletische Figur, ist seit 2020 Bürgermeister der ukrainischen Stadt Melitopol, die im Süden des Landes liegt. Sie sei ein gutes Beispiel für eine enge Zusammenarbeit mit der EU, sagt der 33-Jährige. Nach Kriegsbeginn fiel die Stadt am 25. Februar unter Russlands Kontrolle. Niemand habe die Besatzer unterstützt – weder die Regierung noch die Bevölkerung, erklärt ihr Stadtoberhaupt.

Die Invasoren beschuldigten Fedorow, eine ukrainische rechtsextreme Organisation finanziert zu haben. Er bestreitet den Vorwurf. Am 11. März wurde er entführt und tagelang verhört. Später sagte er: "Sie haben mich ins Gefängnis gebracht." Und: "Ich hörte die Schreie von Gefolterten aus den Zellen nebenan.

Die Entführung hat ihn weltweit bekannt gemacht. In einem Gefangenenaustausch kam er nach vier Tagen frei. Per Dekret verlieh ihm der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Orden für "einen bedeutenden persönlichen Beitrag zum Schutz der staatlichen Integrität der Ukraine, Mut und selbstloses Handeln" bei der Verteidigung gegen die russischen Invasoren. Doch in seine Heimatstadt, die nach wie vor besetzt ist, kann er nicht zurückkehren.

Dort fehle es laut Fedorow an Medikamenten und Essen. 6000 Einwohner würden die Stadt verlassen wollen, aber das sei "unmöglich". Russland lehne humanitäre Hilfe und Evakuierungen ab. Er erzählt, russische Soldaten hätten 50 seiner Kollegen entführt. Drei von ihnen sollen sie erschossen haben.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Iwan Fedorow: Langsame Waffenlieferungen kosten Menschenleben

Seit einigen Wochen ist Fedorow in Westeuropa unterwegs und redet den Ländern ins Gewissen, sie mögen doch bitte mehr schwere Waffen liefern. Begleitet wird er von den ukrainischen Parlamentsabgeordneten Maria Mezentseva, Olena Khomenko und Maria Ionowa. Sie waren schon beim französischen Präsidenten im Élysée-Palast in Paris. Im Petersdom in Rom wohnten sie der Osterpredigt von Papst Franziskus bei. Sie saßen ganz vorne in der ersten Reihe. Der Pontifex wandte sich direkt an die Gäste aus der Ukraine: "Wir alle beten mit euch und für euch."

In Brüssel appellierte Fedorow an die Abgeordneten des Europaparlaments. "Die ukrainischen Familien denken nicht an Bequemlichkeit, sie denken an ihr Überleben. Das muss aufhören, und zwar so bald wie möglich und mit allen Möglichkeiten wie Sanktionen und Waffen."

Maria Mezentseva, die seit 2019 für die Partei von Präsident Selenskyj im Parlament in Kiew sitzt, berichtet, wie das Haus ihrer Familie von sechs Raketen getroffen wurde. Sie zählt die Waffen auf, die ihr Land jetzt braucht, darunter schwere Artillerie und bewaffnete Fahrzeuge. Man merkt, dass sie das nicht zum ersten Mal tut. Sie hat Routine.

"Allein mit 40 Marder-Schützenpanzern können wir Mariupol zurückgewinnen." Sie schildert die prekäre Lage in der belagerten Hafenstadt. "Die Zivilisten essen Katzen- und Hundefutter und trinken aus Kloschüsseln, um zu überleben." Lesen Sie auch: Mariupol: "Die Zähne der Kinder fangen an zu verrotten"

Der Bürgermeister ist stolz auf die Leistung der ukrainischen Armee

Fedorow pocht auf Tempo. Jeder Tag, an dem Deutschland mit Waffenlieferungen zögere, koste Hunderte Zivilisten und Soldaten das Leben. "Wir sollten gemeinsam unserem Land zum Sieg verhelfen. Putin wird auch andere europäische Staaten angreifen." Die Leistung der ukrainischen Truppen mache ihn stolz. "Vor dem 24. Februar hat niemand geglaubt, dass wir uns gegen Russland verteidigen könnten."

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von einem externen Anbieter, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Olena Khomenko spricht von "Wundern", die das heimische Militär in diesen Monaten vollbringe, "aber der Krieg wird auf dem Schlachtfeld entschieden und deshalb brauchen wir schwere Waffenlieferungen". Auch die Sanktionen müssten aus ihrer Sicht deutlich verschärft werden. Ein mögliches Öl-Embargo bis Ende 2022 begrüßt sie, "das ist jedoch nicht genug". Die EU habe weiterhin keine Strategie im Umgang mit Putin, kritisiert Khomenko. Gleichwohl werde die Ukraine nicht aufgeben. "Wir werden bis zum Ende kämpfen, aber wir wollen nicht sterben."

Eine Baby schaut aus dem Fenster eines Busses mit Geflohenen aus Mariupol und Melitopol.
Eine Baby schaut aus dem Fenster eines Busses mit Geflohenen aus Mariupol und Melitopol. © Chris McGrath/Getty Images

Die ukrainische Regierung will den Status als EU-Beitrittskandidat erreichen

Neben der Forderung nach mehr Waffen, verweist Mezentseva auch auf die Bemühungen ihres Landes, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Ein Komitee aus neun Parlamentsmitgliedern unterschiedlicher Parteien arbeitete täglich an der europäischen Integration. Anfang der Woche hat Selenskij dem EU-Botschafter in Kiew den ersten ausgefüllten Teil des Fragebogens für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine übergeben.

Der Besuch des EU-Ratschefs Charles Michel habe zudem bewiesen, so Mezentseva, dass sich "unser Land in einem guten Abstimmungsprozess befindet." Nun hofft man, dass die Ukraine beim regulären EU-Gipfel den Status als Beitrittskandidat erhält. In der Präsidialadministration sieht man sich als "verantwortungsvoller Partner der EU". Daher werde das Assoziierungsabkommen an einigen Stellen überprüft – etwa, wenn es um die Freihandelszone (DCFTA) zwischen den EU-Ländern und der Ukraine geht.

An der ukrainischen Botschaft haben sie am Freitag die Flagge Melitopols gehisst. Grabkerzen und Kondolenzbotschaften säumen den Gehweg. Zahlreiche Geflüchtete, es sind vor allem Frauen und Kinder, stehen vor dem Eingang. Die Schlange reicht fast bis zur nächsten Straßenecke.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt